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Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht

Titel: Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Augenbraue zuckte nach oben, aber er sah sie noch immer nicht an. »Vielleicht wirst du bald alles verstehen, Merle.«
    Noch einmal dachte sie an ihre Mission, an die Hilfe für Venedig. Aber in Gedanken sah sie die Stadt wie auf einer schwimmenden Insel vor sich im Meer treiben, immer weiter fort, dem Horizont, dem Vergessen entgegen.
    Burbridge selbst zeigte daran nicht mehr das mindeste Interesse. Und es konnte dafür nur einen Grund geben.
    Weil er längst hatte, was er wollte.
    Nur irgendein Mädchen…
    Alles in ihr sträubte sich vor Verwirrung.
    Der Gitterring über dem Steinernen Licht war jetzt nur noch knapp hundert Meter unter ihnen. Die Wege wurden breiter, und immer öfter führten sie durch Röhren und Tunnel, in denen mächtige Maschinen rumorten. Schlote spien Rauch- und Qualmwolken aus, die sich mit dem allgegenwärtigen Dunst vermischten und das Atmen erschwerten. Stählerne Zahnräder, so groß wie Häuser, drehten sich an den Seiten der Stege, waren miteinander verzahnt oder bewegten Ketten und Riemen, die wiederum nach oben oder unten zu anderen Rädern und Maschinen führten. Je näher sie dem Grund der Kuppel kamen, desto mehr ähnelten die Aufbauten zu beiden Seiten der schwebenden Gitterstege dem Inneren jener Dampffabriken, die auf einigen Inseln der venezianischen Lagune entstanden waren; Merle hatte zwei davon selbst kennen gelernt, als die Aufseher des Waisenhauses versucht hatten, sie dort als Arbeitskraft unterzubringen.
    Sie fragte sich, wo die Lilim steckten, die all diese Gerätschaften bedienten. Nirgends gab es Arbeiter, ganz gleich, welcher Art; es war, als wären die Anlagen völlig verlassen. Dabei liefen viele der Maschinen auf Hochdruck, und in manchen Passagen war der Lärm ohrenbetäubend.
    Erst nach einer Weile erkannte sie, dass die Maschinentunnel keineswegs verlassen waren. Manchmal entdeckte sie einen Schatten zwischen den Geräten, ein andermal wuselte etwas blitzschnell über die Decke. Mehrfach bewegten sich plötzlich Schläuche und verwinkelte Rohre, die sie für Teile der Maschinen gehalten hatte; in Wahrheit verbargen sich dort einzelne Lilim, die im letzten Moment ihre Gliedmaßen einzogen.
    »Sie verstecken sich«, sagte die Fließende Königin, aber als Merle die Worte laut aussprach, nickte Burbridge nur, brachte ein knappes »Ja« hervor und verfiel wieder in Schweigen.
    Sie haben Angst vor ihm, dachte sie.
    »Oder vor dir«, sagte die Königin.
    Wie meinst du das?
    »Du bist sein Gast, oder?«
    Seine Gefangene.
    »Nein, Merle. Ein Gefangener wird in Ketten gelegt oder eingesperrt, einem Gefangenen hält man keine Vorträge. Dich behandelt er wie eine Verbündete.«
    Zuletzt ließen sie die Tunnel und rauchenden Schlote hinter sich und betraten die untere Ebene. Auf den Stegen, die sternförmig zum Gitterkreis führten, gab es keine Aufbauten mehr. Wieder trennten sie nur dünne Eisengeländer vor dem lockenden Sog des Abgrunds.
    Schon von weitem sah Merle, dass sie auf dem runden Steg erwartet wurden. Der Gitterkreis ruhte wie eine Krone über dem Zentrum des Lichts, dreißig oder vierzig Meter über der Wölbung. Rundherum standen Gestalten, in engem Abstand um das Geländer gruppiert. Gestalten mit menschlichen Proportionen. Sie verharrten vollkommen reglos wie Statuen, und im Näherkommen sah Merle, dass ihre Körper aus Stein waren.
    »Sie warten auf etwas«, sagte die Königin.
    Das sind bloß Statuen.
    »Nein. Das sind sie ganz sicher nicht.«
    Schon vorher hatte Merle gesehen, dass ein einzelner Steg quer durch den Gitterkreis führte, von einer Seite zur anderen. In seiner Mitte, und damit im exakten Zentrum der Kuppel, befand sich eine kleine Plattform, gerade groß genug, um mehreren Personen Platz zu bieten. Im Augenblick war sie leer.
    An einem Strick von der Plattform baumelte der Leichnam eines Ägypters.
    Er trug goldene Gewänder, die an vielen Stellen zerfetzt und verschmort waren. Sein Schädel war kahl rasiert. Ein goldenes Muster bedeckte die Kopfhaut wie ein Netz.
    Sie hatte diesen Mann erst ein einziges Mal gesehen und auch da nur aus der Ferne. Dennoch erkannte sie ihn auf Anhieb.
    Seth.
    Der Wesir der Pharaos. Der Oberste der Horuspriester.
    Sein Körper drehte sich leicht, wies mal mit dem Gesicht zu Merle, mal mit dem Rücken. Man hatte ihn an einem groben Strick aufgeknüpft, der seltsam archaisch wirkte an einem Ort wie diesem. Sie hätte vermutet, dass Burbridge über ausgefeiltere Techniken verfügte, um einen Mann

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