Die Merle-Trilogie 02 - Das steinerne Licht
Beweis, dass alles, was Lord Licht sich von ihnen erhofft hatte, ein Trugschluss gewesen war. Sie mochten Schutz vor Menschen bieten, auch vor Lilim, aber nicht gegen den Zorn eines Sphinx, dessen Macht und Kraft und Grausamkeit Legende war unter den Völkern der Welt.
Iskander war, das sah Merle auf den ersten Blick, kein gewöhnlicher Sphinx. Er war größer, stärker und noch dazu geflügelt. Sein langes, bronzefarbenes Haupthaar hatte sich in seinem Nacken gelöst und wirbelte wirr um seinen Schädel, ein Netz flatternder Strähnen wie Tentakel einer bizarren Wasserpflanze. Er hatte Krallen nicht nur an seinen Löwenpranken, sondern auch an den beiden Händen seines menschlichen Oberkörpers, und sie waren lang und scharf genug, um sogar Stein zu zertrümmern. Merle mochte sich nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn sie auf weiches Fleisch, auf Muskeln, Haut und Knochen trafen.
Ihr Blick suchte den zweiten Käfig, in dem Vermithrax noch immer gefangen war. Der Obsidianlöwe saß längst nicht mehr ruhig da, sondern versuchte verzweifelt, mit seinen Pranken die Stäbe auseinander zu biegen.
Vergeblich. Iskanders Käfig war von Seths Magie zerstört worden, nicht von der Muskelkraft des Sphinx, und Vermithrax’ Gefängnis blieb davon unberührt. Der stählerne Kasten schaukelte und ruckte, als Vermithrax zornig darin umherlief, sich immer wieder gegen das Gitter warf und etwas zu Merle herabbrüllte, das sie über den Lärm des Kampfes hinweg nicht verstand.
Warum kamen Burbridge keine Lilim zu Hilfe? Er hatte auf die Stärke der Golemkrieger vertraut. Aber hätte er nicht ahnen müssen, wozu der Sphinx in der Lage war?
Merle erinnerte sich wieder an die leeren Maschinentunnel, an die verängstigten Geschöpfe, die hinter Stahl und Rauch vor ihrem Meister in Deckung gingen.
Nur ein einziger Lilim war bereit, für Lord Licht in den Tod zu gehen.
Talamar wagte ein verzweifeltes Manöver. Als Iskander einmal mehr aus der Höhe herabschoss, um Burbridges steinerne Garde anzugreifen, stieß sich das groteske Wesen von einem der Geländer ab und warf sich dem Sphinx entgegen. Iskander prallte gegen ihn, verlor für einen Moment die Orientierung, krachte in das gegenüberliegende Geländer und verlor dabei seinen Reiter. Seth wurde vom Rücken des Sphinx geschleudert und polterte auf den Steg.
Talamar hing mit verschlungenen Gliedern an Iskanders Oberkörper, wurde von ihm in die Höhe getragen und nahm ihm die Sicht; sein dürrer Leib klebte vor der Brust und dem Gesicht des Sphinx. Noch einen Augenblick länger war Iskander irritiert, dann packte er den Lilim mit beiden Händen, zerriss ihn und schleuderte ihn in den Abgrund. Talamars Überreste fielen in einer roten Wolke in die Tiefe und verschwanden in der Glut des Steinernen Lichts.
Iskander stieß einen zornigen Schrei aus, leckte sich im Flug das Lilimblut von den Klauen und reagierte nicht auf die Rufe seines Meisters. Seth hatte sich mit seinem unverletzten Arm am Geländer hochgezogen; das goldene Gitter, das in seine Kopfhaut eingelassen war, war mit feuchtem Rot gesprenkelt. Wieder und wieder brüllte er Befehle zu Iskander hinauf, doch der Sphinx gehorchte nicht.
Die geflügelte Kreatur kreischte in wildem Triumph, schoss über Seth hinweg und flog einen weiten Bogen.
Dabei fiel Iskanders Blick auf Vermithrax und erkannte in ihm einen würdigen Gegner. Mit brachialer Wut raste er auf den Käfig des Obsidianlöwen zu, sprang dagegen, klammerte sich an die Gitterstäbe und riss daran. Iskander war kein gewöhnlicher Sphinx. Er war etwas Künstliches, gezüchtet in den Hexenküchen des Pharaos und dessen Priesterschaft, eine Kreuzung aus mehreren Bestien, und Merle hätte es nicht verwundert, wenn irgendwo in ihm auch das Erbe eines Lilim steckte.
Iskander rüttelte weiter an den Gitterstäben, während Vermithrax von innen mit seinen Pranken nach ihm schlug. Er verletzte ihn an seinen Läufen und Klauen, aber der Schmerz machte den Sphinx nur noch zorniger. Der Käfig tanzte wild an seiner Kette in den Lüften, schaukelte weit vor und zurück, drehte sich und kreiste, und das Knirschen von Eisen drang hinab bis zum runden Steg über dem Licht.
Merle und Junipa klammerten sich aneinander, konnten beide nichts tun, und sogar die Fließende Königin tobte in Merles Gedanken aus Angst um Vermithrax’ Leben.
Seth lehnte immer noch verletzt am Geländer, blickte gehetzt von Iskander zu Burbridge. Der Professor tauchte hinter der Mauer seiner
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