Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Vermithrax schnaubte und folgte ihm. Während sie rascher abwärts schaukelten, beobachtete Merle sich und Junipa in den Spiegeln. Sie bekam davon Kopfschmerzen, und ihr war schwindelig, und doch konnte sie sich der Faszination dieser scheinbaren Unendlichkeit nicht entziehen.
Sie erinnerte sich wieder an den magischen Wasserspiegel in ihrer Tasche und an den Spiegelschemen, der seit Beginn ihrer Reise darin gefangen war. Sie zog das schimmernde Oval hervor und betrachtete es. Junipa blickte dabei über ihre Schulter.
„Du hast ihn also noch immer", stel te Junipa fest.
„Klar."
„Erinnerst du dich, wie ich hineingeschaut habe?"
Merle nickte.
„Und ich dir nicht sagen wol te, was ich im Spiegel gesehen habe?"
„Verrätst du's mir denn jetzt?", fragte Merle.
Sie blickten beide einen Augenblick länger auf die wallende Oberfläche des Wasserspiegels, in ihre eigenen, wabernden Gesichter.
„Eine Sphinx", sagte Junipa so leise, dass Seth sie nicht hören konnte. „Da war eine Sphinx auf der anderen Seite. Eine Frau mit dem Leib eines Löwen."
Merle ließ den Spiegel sinken, bis die kühle Rückseite auf ihrem Oberschenkel ruhte. „Im Ernst?"
„Ich mache keine Witze", sagte Junipa traurig. „Schon lange nicht mehr."
„Aber warum -" Merle brach ab. Bislang hatte sie geglaubt, die Hand, die sich ihr auf der anderen Seite des Wasserspiegels entgegenstreckte, wenn sie ihre Finger hineinschob, gehörte ihrer Mutter.
Der Mutter, die sie nie kennen gelernt hatte.
Aber - eine Sphinx?
„Viel eicht so etwas wie eine Warnung?", sagte sie. „Eine Art Blick in die Zukunft?"
„Viel eicht." Junipa klang nicht überzeugt. „Die Sphinx stand in einem Raum voll wehender gelber Vorhänge. Sie war sehr schön. Und sie hatte dunkles Haar, genau wie du." „Was wil st du damit sagen?"
Junipa zögerte. „Nichts ... glaube ich."
„Wil st du doch."
„Ich weiß es nicht."
„Glaubst du wirklich, meine Mutter war eine Sphinx?" Sie schluckte und versuchte zugleich zu lachen, aber es misslang kläglich. „Das ist doch Blödsinn."
„Was ich gesehen habe, war eine Sphinx, Merle. Ich hab nicht gesagt, dass sie deine Mutter war.
Oder irgendwer sonst, den du kennen müsstest."
Merle betrachtete schweigend den Spiegel, der sie ihr Leben lang begleitet hatte und den sie stets gehütet hatte wie ihren Augapfel. Ihre Eltern hatten ihn mit in den Weidenkorb gelegt, in dem sie Merle als Neugeborenes auf Venedigs Kanälen ausgesetzt hatten. Er war immer das einzige Bindeglied zu ihrer Herkunft gewesen, der einzige Anhaltspunkt. Jetzt aber kam es ihr vor, als wäre seine Spiegelung ein wenig dunkler, ein wenig fremder geworden.
„Ich hätte nichts sagen sollen", sagte Junipa bedrückt.
„Doch, das war richtig."
„Ich wollte dich nicht erschrecken."
„Ich bin froh, dass ich's weiß." Aber was wusste sie denn wirklich?
Junipa schüttelte hinter Merles Schulter den Kopf. „Viel eicht war es nur irgendein Bild. Wir haben doch beide keine Ahnung, was es zu bedeuten hat."
Merle seufzte und wollte den Spiegel gerade wieder einstecken, als sie sich erneut an den Schemen erinnerte, der darin eingesperrt war, ein milchiger Hauch, der hin und wieder über die wässerige Oberfläche huschte.
Sanft berührte sie das Spiegelwasser mit ihren Fingerspitzen. Nicht tief genug, um die Oberfläche zu durchstoßen. Ganz, ganz sachte.
„Da ist jemand", sagte die Fließende Königin.
Schweigen.
„Überall", sagte die Fließende Königin und klang einen Moment lang fast panisch. „Er... er ist hier!"
„Hier?", flüsterte Merle.
Vermithrax bemerkte, dass etwas auf seinem Rücken vorging, neigte kurz den Kopf, ohne jedoch nach hinten zu schauen, um Seth nicht auf das Treiben der beiden Mädchen aufmerksam zu machen.
„Hallo?", flüsterte Merle.
Eine Silbe erklang in ihren Gedanken, dann verwischte der Laut zu einem Wispern und Zischen.
Warst du das?, fragte sie die Königin, obwohl sie die Antwort schon ahnte.
„Nein."
Sie versuchte es erneut, mit demselben Ergebnis. Die Stimme aus dem Spiegel war zu undeutlich.
Merle wusste, woran es lag: Ihre Finger waren zu tief in das Wasser des Spiegels gestoßen. Es war unmöglich, sie während des Treppenabstiegs so ruhig zu halten, dass sie nur ganz leicht die Oberfläche berührten - aber genau das schien nötig zu sein, um die Stimme des Schemen zu hören. Sie ärgerte sich, dass sie es nicht früher versucht hatte. Aber wann? Seit ihrer Flucht aus Venedig hatte sie keine
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