Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
irgendwo im Eisernen Auge zu verstecken, bis sie sich auf einen vernünftigen Plan geeinigt hatten.
Die Barke legte sich kurz vor dem Tor des Hangars in eine Kurve, stieg an und schwebte in einer weiten Spirale aufwärts. Merle versuchte, die Patrouillen im Blick zu behalten, aber ihre Sicht aus dem schmalen Fensterschlitz war eingeschränkt, und sie konnte immer nur einzelne Flugsicheln in der Ferne ausmachen. Schließlich gab sie es ganz auf. Sie musste sich damit abfinden, dass ihr Leben im Moment allein in Seths Händen lag.
Die Barke brauchte einige Minuten, ehe sie ihr Ziel erreichte. Merle wechselte auf die andere Seite des Luftschiffes, damit sie die Aufbauten genauer betrachten konnte. Auf allen Dächern, Balkonen und Vorsprüngen lagen dicke Schneehauben, und der unbebaute Rand der Plattform war so tief verschneit, dass Merle es für fraglich hielt, ob sie dort die Barke überhaupt verlassen konnten. Im hohen Schnee war es so gut wie unmöglich, vor ihren Gegnern davonzulaufen.
Seth ließ die Sonnenbarke zu Boden sinken. Sie kam sanft auf dem Schnee auf, begleitet vom Knirschen und Bersten der Eiskruste. Die ersten Gebäude waren etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt. Durch den Fensterschlitz sah Merle enge, hohe Gassen zwischen den Bauten. In Anbetracht der zahllosen Dächer und Türme musste es sich um ein wahres Labyrinth aus Schneisen und Wegen handeln.
Unwillkürlich musste Merle an Serafin denken. Daran, dass er als Meisterdieb am besten gewusst hätte, wie man sich unauffällig in einem solchen Irrgarten aus Gassen bewegte.
Daran, wie sehr sie ihn vermisste.
„Raus hier!" Seths Stimme wischte Serafins Gesicht aus ihren Gedanken. „Schnel , macht schon!"
Und dann rannte sie. Mit Junipa an der Hand. Zwischendurch auch ohne sie. Dann wieder mit ihr.
Stolpernd. Frierend. Ohne zu wagen, nach oben zu blicken, aus Angst, sie könnte sehen, wie sich eine Barke auf sie herabstürzte.
Erst als sie hinter einer Wand in Deckung gingen, einer nach dem anderen und sogar Seth und Vermithrax nahezu einträchtig nebeneinander, wagte Merle wieder durchzuatmen.
„Was nun?" Der Löwe starrte angestrengt zum Rand der Plattform, wo das glitzernde Schneefeld abrupt vor dem Grau des Wolkenabgrunds endete.
„Ihr könnt gehen, wohin ihr wollt." Seth warf erst Merle, dann Junipa einen Seitenblick zu. Merle war nicht entgangen, wie eindringlich er immer wieder Junipa musterte, schon vorhin in der Barke, und nun auch hier draußen, und es gefiel ihr ganz und gar nicht.
Junipa selbst bemerkte nichts davon. Sie hatte eine Hand flach auf die Wand des Gebäudes gelegt, und jetzt drang ein unterdrücktes Stöhnen aus ihrer Kehle. Mit einem Ruck riss sie den Arm zurück und starrte auf ihre Handfläche - sie war feuerrot, auf den Ballen leuchteten Blutstropfen.
„Eisen", sagte Vermithrax, während Merle sich besorgt über Junipas Hand beugte. „Die Wände sind
tatsächlich aus Eisen."
Seth lächelte in sich hinein.
Der Löwe schnupperte mit einer Fingerbreite Abstand an der Wand. „Nicht anfassen! Durch die Kälte bleibt die Haut daran kleben." Erst jetzt schien er sich zu erinnern, dass Junipa genau diesen Fehler bereits begangen hatte. „Al es in Ordnung?", fragte er in ihre Richtung.
Merle hatte das Blut mit einem Ärmel von Junipas Hand getupft. Es war nicht viel, und es floss auch nicht nach. Junipa hatte Glück gehabt. Außer an ein paar Stellen, an der sich die obere dünne Hautschicht abgelöst hatte und an dem eiskalten Eisen haften geblieben war, hatte sie keine Verletzungen davongetragen. Bei einem normalen Menschen würde es ein, zwei Tage dauern, bis er die Hand wieder zur Faust ballen konnte, aber Junipa trug das Steinerne Licht in sich. Merle hatte mit eigenen Augen gesehen, wie schnell Junipas Wunden heilten.
„Geht schon wieder", sagte sie leise.
Seth schob Merle beiseite, nahm Junipas Hand in die seine, wisperte etwas und ließ sie wieder los.
Danach war die Rötung blasser, und die Ränder der Hautfetzen hatten sich geschlossen.
Merle starrte auf die Hand. Warum tut er das?, dachte sie. Warum hilft er uns?
„Nicht uns", sagte die Fließende Königin. „Junipa."
Was will er von ihr?
„Ich weiß es nicht."
Merle war nicht sicher, ob sie ihr glauben wollte. Noch immer hatte die Königin zu viele Geheimnisse vor ihr, und wenn sie es genau bedachte, kamen laufend neue Rätsel hinzu. Merle machte sich nicht einmal die Mühe, diese Gedanken vor ihrem unsichtbaren Gast zu verbergen. Die
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