Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
spöttische Verbeugung an.
    „Das wird sich gut auf deinem Grabstein machen", sagte Vermithrax grimmig.
    „Ich werde verfügen, dass man ihn aus deiner Flanke meißelt", konterte der Priester.
    Vermithrax schabte mit einer Pranke über den Boden, ließ sich aber auf kein weiteres Wortgefecht ein. Er zog den Kampf mit scharfen Krallen solchen Spitzfindigkeiten vor.
    Merle betrachtete Junipa einen Moment lang mit wachsender Sorge, dann streifte ihr Blick das Fenster - und das Ungetüm, das sich draußen über dem Delta aus Eis erhob.
    „Ist das das Eiserne Auge?"
    Seth schaute nicht hinaus, sein Blick verharrte reglos auf Merle. Niemand benötigte seine Bestätigung, alle kannten die Antwort.
    Auch Junipa presste ihr Gesicht gegen die schmale Scheibe. An den Rändern des Fensters hatten sich Eisblumen gebildet, fein verästelte Finger, die nach ihren Spiegelbildern tasteten.
    Erst sah es aus wie ein Berg, ein spitzer Kegel aus Eis und Schnee, eine unnatürliche Falte in der flachen Landschaft, so als hätte jemand den Horizont zusammengeschoben wie ein Stück Papier. Im Näherkommen konnte Merle Einzelheiten erkennen. Das Gebilde vor ihnen war pyramidenförmig, aber mit steileren Schrägen; oben abgeschnitten, als hätte jemand die Spitze mit einer Sense abgeschlagen; und dort, an Stelle des Gipfels, schälte sich aus den Schneewehen eine Ansammlung von Türmen und Giebeln, Balkonen, Balustraden und Säulenarkaden. Was immer sich im Inneren des Eisernen Auges verbarg, dort oben befand sich das wahre Auge. Merle kam es vor wie der Ausguck eines gigantischen Schiffes, der das Land und vielleicht das gesamte Imperium überblickte. Der Koloss - war er aus Stahl, aus Stein, oder wirklich aus Eisen? - erschien Merle zweckmäßig, schmucklos, ohne jeden unnützen Schnörkel. Die Aufbauten aber, in denen die Anlage gipfelte, erstrahlten in unwirklicher Eleganz: verspielte Gebäude voller Verzierungen, schmale Brücken und aufwändig umrahmte Fenster. Wenn es einen Ort gab, an dem die Sphinxe wahrlich lebten - nicht regierten, nicht beherrschten -, dann war es dort, am Gipfel des Eisernen Auges.
    Die Festung war hoch, vielleicht höher als der Himmel; aber nein, die Wolkendecke hing so grau und schwer darüber wie überall auf ihrem Weg. Allmächtig mochte das Eiserne Auge sein, aber nicht überirdisch, nicht himmlisch.
    Die Sphinxe übertreffen Seth an Bösartigkeit um ein Unendliches. Merle hörte Junipas Worte noch einmal, ein wispernder Nachhall in ihren Gedanken.
    Die Barke kreiste in einem weiten Bogen um die gesamte Anlage. Merle war sich nicht sicher, was Seth damit bezweckte. Wollte er sie beeindrucken, eine allerletzte Lobpreisung seiner magischen Kräfte? Oder ging es ihm vielmehr darum, ihnen mit der Festung auch die Macht der Sphinxe vor Augen zu führen? Eine Warnung?
    Schließlich lenkte er die Barke auf eine von zahllosen Öffnungen in der Südseite des Auges zu, horizontale Schlitze im schneebedeckten Weiß der Schräge. Im Näherkommen erkannte Merle dort drinnen ein ganzes Geschwader von Sonnenbarken.
    Ein Dutzend Aufklärer kreisten um die Festung, sie kontrollierten die gefrorenen Arme des Flussdeltas. Doch ihre Bewegungen waren behäbig, der verhangene Himmel hatte die gefürchteten Sonnenbarken ihrer Wendigkeit beraubt. Aus Raubvögeln waren lahme Enten geworden.
    „Was haben Sie jetzt vor?", fragte Merle.
    Seth schloss wieder die Augen, er konzentrierte sich auf den Anflug. „Ich muss die Barke im Hangar landen."
    „Aber dort wird man uns sehen, wenn wir aussteigen."
    „Das ist nicht mein Problem."
    Vermithrax machte einen Schritt auf Seth zu. „Es könnte leicht zu deinem werden."
    Noch einmal öffnete der Priester die Augen, doch sein Blick richtete sich auf Junipa, nicht auf den Löwen, der ihn bedrohte. „Ich könnte versuchen, oben auf der Plattform zu landen. Die Patrouillen werden es bemerken, aber wenn wir Glück haben, sind wir bis dahin schon zwischen den Gebäuden verschwunden."
    „Warum setzt er für uns sein Leben aufs Spiel?", fragte die Königin argwöhnisch.
    „Das ist ein Trick", knurrte auch Vermithrax.
    Seth zuckte die Achseln, jetzt wieder mit geschlossenen Augen. „Habt ihr einen besseren Vorschlag?"
    „Bring uns von hier fort", sagte der Löwe.
    „Und die Wahrheit, die du suchst?" Seth lächelte. „Wo sonst wil st du sie finden?"
    Darauf schwieg Vermithrax. Auch Merle und Junipa sagten nichts mehr. Sie hatten die Wahl, wieder im Schnee ausgesetzt zu werden oder sich

Weitere Kostenlose Bücher