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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Königin sollte ruhig wissen, dass sie ihr nicht traute.
    „Seth treibt ein doppeltes Spiel", sagte die Königin. Wieder regte sich Argwohn in Merle. Wollte sie damit von sich selbst ablenken?
    Der Priester hatte sich von der kleinen Gruppe abgewandt und eilte gebückt durch den Schnee auf eine Tür zu, die ins Innere eines Gebäudes führte: ein hoher Turm mit flachem Dach, dessen Oberfläche mit einem bizarren Muster aus Eisblumen bedeckt war. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, dass sich unter den Frostkrusten blankes Metall verbarg.
    „Warte!", rief Vermithrax dem Horuspriester hinterher, doch Seth tat, als hätte er den Löwen nicht gehört. Erst unmittelbar vor der Tür blieb er stehen und schaute sich kurz um.
    „Ich kann keinen Tross aus Kindern und Tieren gebrauchen." Die Art, wie er das Wort betonte, war eine offene Kampfansage. „Macht, was ihr wollt, aber lauft mir nicht hinterher."
    Merle und Junipa wechselten einen Blick. Es war zu kalt hier draußen, der Wind so schneidend wie zerbrochenes Glas. Sie mussten ins Innere der Festung, ganz gleich, was Seth davon hielt.
    Mit zwei gleitenden Schritten war Vermithrax bei dem Priester und schob ihn kurzerhand beiseite, eine Spur grober, als nötig gewesen wäre. Als er bemerkte, dass die Tür verriegelt war, stieß er sie mit einem Prankenschlag nach innen. Merle erkannte, dass das Schloss zerbrochen und die Tür aus Holz war. Nur die Oberfläche war mit einer spiegelnden Metalllegierung überzogen. Vermutlich waren die Wände ebenso aufgebaut und nicht wirklich aus massivem Eisen, wie sie bislang vermutet hatte.
    Überhaupt war sie nicht sicher, ob gewöhnliches Eisen derart spiegeln konnte; wahrscheinlich handelte es sich um ein anderes Metall. Echtes Eisen existierte nur im Namen der Festung.
    „Das war ausgesprochen unauffällig", bemerkte Seth spöttisch und ging an Vermithrax vorbei ins Innere des Gebäudes. Dahinter lag ein kurzer Flur, der in ein Treppenhaus führte.
    Alles war silbern und spiegelnd, die Wände, der Boden, die Decke. Hier drinnen waren die Spiegel nicht mehr aus Metall, sondern aus Glas. Sie sahen sich selbst in den Wänden des Ganges reflektiert, glasklar, ohne merkliche Verzerrung. Da sich die Spiegelwände auf beiden Seiten des Korridors gegenüberlagen, setzten sich ihre Ebenbilder ins Unendliche fort, eine ganze Armee aus Merles, Junipas, Seths und Obsidianlöwen.
    Vermithrax' Glut leuchtete in der Vervielfachung so hell wie eine Sonne, eine ganze Kette von Sonnen, und was ihnen bislang recht dienlich gewesen war - eine ständige Lichtquelle, ganz ohne Lampen oder Fackeln -, wurde hier drinnen zu einem verräterischen Alarmsignal für jeden, der sich ihnen näherte.
    Die Treppenstufen waren breiter als in einem Menschengebäude. Die Abstände mussten den vier Löwenpranken eines Sphinx angepasst worden sein, und auch die Höhe der einzelnen Stufen war enorm. Lediglich Vermithrax kamen die ungewohnten Maße zugute, und so nahm er Merle und Junipa auf seinen Rücken und beobachtete mit Genugtuung, wie Seth schon bald vor Anstrengung schwitzte.
    „Wohin gehen wir eigentlich?", fragte Merle.
    „Das wüsste ich auch gern", sagte die Königin.
    „Nach unten", entgegnete Seth, der vorneweg lief.
    „Ach?"
    „Ich habe euch nicht gebeten, mich zu begleiten."
    Vermithrax tippte ihm mit einer Schwingenspitze auf die Schulter. „Wohin?", fragte er mit Nachdruck.
    Der Priester blieb stehen, und für ein paar Herzschläge blitzte in seinen Augen ein solcher Zorn auf, dass Merle spürte, wie Vermithrax' Muskeln sich unter seinem Fell versteiften. Sie war nicht einmal sicher, ob es tatsächlich nur Wut war, die hinter der Stirn des Priesters tobte: Vielleicht war es Magie, schwarze, böse, tödliche Magie.
    Doch Seth belegte sie mit keinem Bannspruch. Stattdessen funkelte er Vermithrax noch einen Augenblick länger an, dann sagte er leise: „Hier oben wird es bald von Sphinxen wimmeln. Irgendwem wird aufgefallen sein, dass wir auf der Plattform gelandet sind. Und wenn es so weit ist, will ich nicht mehr hier sein. Weiter unten ist es einfacher, sich zu verstecken. Oder glaubst du allen Ernstes, die Sphinxe seien dumm genug, tausend Löwen zu übersehen, die leuchten wie der Vollmond und vermutlich ebenso viel Hirn besitzen?" Und damit deutete er auf die endlose Reihe von Vermithrax'
    Spiegelbildern überall um sie herum im Treppenschacht.
    Ehe der Obsidianlöwe etwas erwidern konnte, setzte Seth seinen Weg bereits fort.

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