Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
einem runden Bullauge und sah die Wunder des Meeresbodens vorüberziehen.
Fischschwärme funkelten im Halbdunkel. Er erkannte unterseeische Wälder aus bizarren Gewächsen und Dinge, die vielleicht Tiere, vielleicht Pflanzen waren.
Das Unterseeboot, das sie im Auftrag der Meerhexe an Bord genommen hatte, schwebte wie ein Rochen durch die Tiefe, begleitet von dutzenden Feuerblasen, die sie bereits an der Seite der Hexe gesehen hatten. Die lodernden Kugeln zogen rechts und links des Bootes dahin wie ein Kometenschwarm und überzogen den Meeresgrund mit einem zuckenden Muster aus hell und dunkel.
Dario trat neben ihn. „Ist das nicht unglaublich?"
Serafin kam es vor, als hätte man ihn aus einem tiefen Traum gerissen. „Dieses Schiff? Ja ... ja, das ist es wohl."
„Klingt nicht gerade begeistert."
„Hast du die Mannschaft gesehen? Und diesen Irren, der sich Kapitän nennt?"
Dario schmunzelte. „Du hast es noch nicht begriffen, oder?"
„Was?"
Das sind Piraten."
„Piraten?" Serafin stöhnte leise. „Wie kommst du darauf?"
„Einer von ihnen hat's mir erzählt, während du hier stundenlang rumgestanden und Trübsal geblasen hast."
„Ich hab an Merle gedacht", sagte Serafin leise. Dann runzelte er die Stirn. „Echte Piraten?"
Dario nickte, und sein Grinsen wurde breiter. Serafin fragte sich, was seinen Freund wohl so sehr an der Tatsache begeisterte, dass sie einer Bande von Räubern und Mördern in die Hände gefallen waren.
Romantische Vorstellungen vom Piratentum, vermutlich; die alten Geschichten von edlen Freibeutern, die stolz und ohne Respekt vor der Obrigkeit auf den Weltmeeren kreuzten.
Dabei war Serafin nicht einmal besonders überrascht. Darios Entdeckung passte durchaus ins Bild.
Was für Verbündete durften sie schon von einer Meerhexe erwarten? Zudem führte Kapitän Calvino seine Mannschaft mit einer Härte, die an Grausamkeit grenzte. Und die Matrosen selbst? Schon von weitem als Halsabschneider zu erkennen, finstere Kerle mit wirrem Haar, schmutziger Kleidung und zahllosen Narben.
Ganz großartig. Phantastisch. Vom Regen in die Traufe.
„Sie bezahlen für den Schutz der Hexe mit Leichen", sagte Dario genüsslich.
Serafin funkelte ihn an. „Und ich dachte, Leichen hätten wir al e genug gesehen."
Dario zuckte zusammen. Die Erinnerung an ihre Flucht aus Venedig und Boros Tod stand ihm noch frisch vor Augen, und die Bemerkung tat ihm sichtlich Leid. Doch auch Serafin bedauerte seine scharfe Erwiderung: Darios Begeisterung für die Piraten war nichts als Maskerade, hinter der er seine wahren Gefühle verbarg. Tatsächlich litt er genauso unter dem, was passiert war, wie alle anderen.
Serafin legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Entschuldigung."
Dario brachte ein gequältes Lächeln zu Stande. „Mein Fehler."
„Erzähl mir, was du noch rausgefunden hast." Und in einem Anflug harscher Selbstkritik fügte er hinzu: „Wenigstens du warst schlau genug, mehr über unsere neuen Freunde herauszufinden, statt stumpfsinnig aus dem Fenster zu starren."
Dario nickte kurz, dann aber wich sein Grinsen einer besorgten Miene. Er trat neben Serafin ans Bullauge, und beide wandten die Gesichter der Scheibe zu.
„Sie sammeln die Leichen ihrer Opfer in einem Raum im hinteren Teil des Bootes. Wobei ich, ehrlich gesagt, nicht sicher bin, ob es da oben überhaupt noch Schiffe gibt, die von Piraten ausgeraubt werden könnten. An die Kriegsgaleeren der Ägypter wagen sie sich bestimmt nicht heran, und soweit ich weiß, gibt es seit Beginn des Krieges so gut wie keinen Handel mehr auf dem Mittelmeer."
Serafin nickte. Das Imperium hatte alle Handelsrouten gekappt. In den verödeten Hafenstädten gab es für Kaufleute keine Kundschaft mehr. Wie alle anderen waren auch die Händler samt den Besatzungen ihrer Schiffe als Sklaven in den Mumienfabriken gelandet.
Dario warf einen sichernden Blick zurück in den Raum: Sie befanden sich in einer der engen Kabinen, an deren bronzefarbenen Wänden ein Irrgarten aus Rohren verlief, kunstvoll eingearbeitet in aufwändige Verzierungen, ähnlich dem Stuck in den Palästen Venedigs, mit dem einzigen Unterschied, dass die Muster hier aus Metall und Holz gefertigt waren. Serafin fragte sich nicht zum ersten Mal, von wem Kapitän Calvino das Boot erbeutet hatte. Selbst entworfen hatte er es ganz bestimmt nicht, denn er schien kein Mann zu sein, der Schönheit zu schätzen wusste. Und bei aller Zweckmäßigkeit des Unterseebootes war hier offenbar jemand mit
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