Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Steven."
Burbridge hatte bei ihrer Ankunft in der Mitte des Raumes gestanden, so als hätte er ihr Kommen erwartet.
„Es ist wegen der Spiegel", sagte die Fließende Königin. „Wenn die Spiegel ihn wirklich schützen, dann ist er vermutlich in ihrem Zentrum am sichersten, dort wo sich ihre Blicke treffen." Etwas Ähnliches hatte einmal Arcimboldo zu ihr gesagt: „Schau in einen Spiegel, und er schaut zu dir zurück. Spiegel können sehen!"
„Es ist kein Zufall", fuhr die Königin fort, „dass Burbridge die Höl enstadt Axis Mundi getauft hat, die Achse der Welt. So wie sie symbolisch den Mittelpunkt der Hölle markiert, so ist dies hier die Achse seiner Existenz, seine eigene Mitte, der Ort, an dem er immer noch er selbst ist, ohne den Einfluss des Lichts." Nach kurzem Zögern setzte sie hinzu: „Die meisten sind ihr Leben lang auf der Suche nach ihrer Mitte, nach der Achse ihrer Welt, aber die wenigsten sind sich dessen bewusst."
Burbridge machte erneut zwei Schritte in die Richtung der Mädchen. Die Bewegung hatte nichts Bedrohliches an sich.
Ist er meine Achse?, fragte Merle in Gedanken. Meine Mitte?
Die Königin lachte leise. „Er selbst? Oh nein. Aber die Mitte ist oft das, was am Ende unserer Suche steht. Du hast deine Eltern gesucht, und du bist vielleicht drauf und dran, sie zu finden. Womöglich ist deine Familie deine Mitte, Merle. Und Burbridge ist wohl oder übel ein Teil davon. Aber irgendwann wirst du vermutlich nach anderen Dingen suchen."
Dann ist die Mitte so etwas wie das Glück, das man immer sucht, aber nie findet?
„Sie kann das Glück sein, aber auch dein Untergang. Manche suchen ihr ganzes Leben lang nichts anderes als den Tod."
Zumindest können sie sicher sein, dass sie ihn irgendwann finden, dachte Merle.
„Mach dich nicht darüber lustig. Schau dir Burbridge an! Das Steinerne Licht hält ihn seit Jahrzehnten am Leben. Glaubst du nicht, er wäre bereit für den Tod? Und wenn er ihn irgendwo findet, dann hier, wo das Licht ihn nicht packen kann. Wenigstens noch nicht."
Noch nicht?
„Das Licht wird von unserer Anwesenheit wissen. Und es wird alldem nicht mehr lange tatenlos zusehen."
Dann müssen wir uns beeilen.
„Gute Idee."
Merle wandte sich an Burbridge: „Ich muss die Wahrheit erfahren. Lalapeja sagt, dass es wichtig ist."
„Für sie oder für dich?" Der alte Mann schien amüsiert und zugleich todtraurig.
„Erzählen Sie es mir?"
Sein Blick glitt über das endlose Rund der Spiegel. Arcimboldos Vermächtnis. „Du weißt vermutlich nicht viel über Lalapeja", sagte er. „Nur dass sie eine Sphinx ist, nicht wahr?"
Merle nickte.
„Auch in Lalapeja steckt ein Stück vom Steinernen Licht, Merle. Wie in dir selbst, denn du bist ihr Kind. Aber dazu komme ich gleich. Erst der Beginn, nicht wahr? Immer erst der Anfang ... Vor langer Zeit bekam die Sphinx Lalapeja den Auftrag, ein Grab zu beschützen. Nicht irgendein Grab, versteht sich, sondern das Grab des Urahnen aller Sphinxe. Ihres Stammvaters und nicht etwa, wie manche glauben, ihres Gottes - obwohl er das leicht werden könnte, wenn seine alte Macht neu erwacht. Sie nennen ihn den Sohn der Mutter. Nach seinem Tod vor abertausenden von Jahren bestattete ihn das Sphinxvolk an einem Ort, der später die Lagune von Venedig werden sollte. Damals gab es dort nichts, nur düstere Sümpfe, in die sich kein Leben verirrte. Sie setzten Wächter ein, die seinen ewigen Schlaf behüten sollten, eine ganze Reihe von Wächtern, und der letzte von ihnen war Lalapeja. Zu jener Zeit, während Lalapejas Wacht, geschah es, dass sich Menschen in der Lagune ansiedelten, erst einfache Hütten bauten, dann Häuser, und schließlich, im Laufe der Jahrhunderte, eine ganze Stadt."
„Venedig."
„Ganz recht. Die Sphinxe meiden die Menschen für gewöhnlich, ja, sie hassen sie geradezu, aber Lalapeja unterschied sich von anderen ihres Volkes, und sie beschloss, die Männer und Frauen gewähren zu lassen. Sie bewunderte ihren starken Willen und ihre Entschlossenheit, dem nassen, unwirtlichen Ödland ein neues Zuhause abzutrotzen."
Eine Achse, dachte Merle in plötzlichem Begreifen. Eine Mitte ihrer kleinen, tristen Menschenwelt.
Und die Königin sagte: „So ist es."
„Mit den Jahrhunderten nahm die Lagune jene Gestalt an, die du heute kennst, und all die Zeit über harrte Lalapeja dort aus. Zuletzt bewohnte sie einen Palazzo im Cannaregio-Viertel. Und dort ist mein Sohn ihr begegnet. Steven."
„Wer war Stevens
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