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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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blühte Junipa auf. Immer wieder war dort, wo Merle einen Weg erwartete, doch nur eine neue Wand aus Glas, und eine weitere rechts davon und eine links, aber Junipa fand trotzdem den schmalen Spalt dazwischen, das Schlupfloch, das Nadelöhr in dieser glitzernden, blitzenden, schillernden Unendlichkeit.
    „Die Sphinxe müssen hier gewesen sein", sagte Merle.
    „Glaubst du wirklich?"
    „Sieh dich doch um. Das Eiserne Auge ist eine Nachbildung. Überall Spiegel, die sich selbst widerspiegeln. Immer wieder man selbst in sich selbst. Das Eiserne Auge ist eine Kopie davon, eine Spiegelung der Spiegelwelt, sozusagen. Nur viel klarer, viel... vernünftiger. Hier scheint alles so willkürlich zu sein. Wenn ich nach rechts gehe, gehe ich dann wirklich nach rechts? Und ist links tatsächlich links? Wo ist oben und unten und vorne und hinten?" Sie wollte anhalten, als sie vor sich eine Sackgasse zu erkennen glaubte; aber Junipa zog sie hinter sich her, und sie passierten die Stelle, ohne auf Widerstand zu stoßen. Für Junipa schien der Weg selbstverständlich zu sein, so als hätten ihre Spiegelaugen die Witterung einer Fährte aufgenommen. Für Merle war es ein Wunder.
    Sie betrachtete ihre Freundin von der Seite, folgte mit ihren Blicken dem zarten Profil des Mädchens, dem Schwung ihrer milchweißen Haut. Sie verharrte auf den Spiegelscherben in ihren Augen.
    „Was siehst du?", fragte sie. „Ich meine, hier ... Wie erkennst du den richtigen Weg?"
    Junipa lächelte. „Ich seh's einfach. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Es ist, als wäre ich schon mal hier gewesen. Wenn du durch Venedig gehst, dann kennst du doch auch den Weg, ohne nach bestimmten Punkten zu suchen, nach Wegweisern oder solchen Sachen. Du gehst einfach, und irgendwann kommst du an. Wie von selbst. Für mich ist es hier das Gleiche."
    „Aber du warst noch nie hier."
    „Ich nicht. Aber viel eicht meine Augen."
    Sie schwiegen eine ganze Weile, ehe Merle erneut das Wort ergriff. „Bist du böse auf Arcimboldo?"
    „Böse?" Junipa lachte hel , und es klang aufrichtig. „Wie könnte ich ihm böse sein? Ich war blind, und er hat mich wieder sehend gemacht."
    „Aber er hat es im Auftrag von Lord Licht getan."

    „Ja und nein. Lord Licht, Burbridge ... er hat Arcimboldo befohlen, uns aus dem Waisenhaus zu holen. Und das mit den Augen war auch seine Idee. Aber Arcimboldo hat es nicht nur deshalb getan. Er wollte mir helfen. Uns beiden."
    „Ohne ihn wären wir nicht hier."
    „Ohne ihn wäre die Fließende Königin eine Gefangene der Ägypter oder tot. Genau wie wir und der Rest von Venedig. Hast du die Sache mal von der Seite betrachtet?"
    Merle war der Ansicht, dass sie die Angelegenheit von jeder nur möglichen Warte aus betrachtet hatte. Natürlich waren sie nur in Freiheit, weil Arcimboldo sie bei sich aufgenommen hatte. Aber was war diese Freiheit wert? Im Grunde waren sie Gefangene wie alle anderen - schlimmer noch, sie waren Gefangene eines Schicksals, das ihnen keine Wahl ließ außer dem einmal eingeschlagenen Weg. Es wäre so angenehm gewesen, einfach stehen zu bleiben, sich zurückzulehnen und sich zu sagen, dass irgendjemand die ganze Sache schon regeln würde. Doch so verhielten sich die Dinge nun einmal nicht.
    Die Verantwortung lag allein bei ihnen.
    Sie fragte sich, ob Arcimboldo das womöglich vorausgesehen hatte. Und ob er sich deshalb auf den Handel mit Lord Licht eingelassen hatte.
    „Wir sind bald da", sagte Junipa.
    „So schnel ?"
    „Du darfst die Wege hier nicht mit unserem Maß messen. Jeder von ihnen ist auf seine Weise eine Abkürzung. Das ist der Sinn der Spiegelwelt: rasch von einem Ort zum anderen zu kommen."
    Merle nickte und hatte mit einem Mal das Gefühl, dass alles, was Junipa ihr erzählte, gar nicht so fern lag. Je phantastischer sich die Dinge auf ihrer Reise entwickelt hatten, desto weniger erstaunlich erschienen sie Merle. Sie fragte sich unwillkürlich, wie lange das schon so ging. Wann hatte sich für sie die alte Welt in ihre Bestandteile zerlegt und war zu etwas Neuem geworden? Nicht erst, als die Königin in sie gefahren war, aber doch in jener Nacht: als sie zum ersten Mal der alten Merle Auf Wiedersehen gesagt und der neuen die Tür geöffnet hatte; als sie mit Serafin das Fest verlassen und sich ganz in diesen unverhofften Moment hatte fallen lassen; als sie ein wenig vertrauter mit dem Gedanken geworden war, bald erwachsen zu werden.
    „So", sagte Junipa. „Da vorne."
    Merle blinzelte, sah

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