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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie mit Grazie und Schönheit.
    „Dort entlang", sagte sie, und Vermithrax nickte. Er war zu demselben Ergebnis gekommen.
    Was genau die beiden witterten, wusste Merle nicht. Erst nach einer Weile begriff sie, dass es der Schnee war, den sie spürten, so wie manche Tiere instinktiv einem bevorstehenden Kälteeinbruch entfliehen oder Vorräte in ihren Erdhöhlen einlagern.
    Seit der Begegnung auf der Treppe war einige Zeit vergangen. Zeit, in der Merle sich damit abfinden musste, dass die Sphinx an ihrer Seite tatsächlich ihre Mutter war. Und damit, dass es wirklich Serafin war, der jetzt mit ihr auf Vermithrax' Rücken saß und von hinten die Hände um ihre Taille gelegt hatte, um sich festzuhalten.
    Nachdem der Obsidianlöwe eingesehen hatte, dass die Sphinx auf der Treppe kein Feind war, hatte er Merle auf den Stufen abgesetzt. Sie und Serafin waren sich um den Hals gefallen, um lange einfach so dazustehen, ohne Worte, fest in den Armen des anderen. Merle hatte das Gefühl, dass er sie beinahe geküsst hätte, aber dann berührten seine Lippen nur kurz ihr Haar, und sie konnte dabei an nichts anderes denken, als dass sie es seit Tagen nicht gewaschen hatte. Es war verrückt, wirklich. Da waren sie alle in dieser verfluchten Sphinxfestung gefangen, und sie dachte ans Haarewaschen! War es das, was Verliebtsein mit einem anstellte? Und war es denn Verliebtsein, das für den Kloß in ihrem Hals und das Flattern in ihrem Bauch verantwortlich war?
    Serafin beugte sich nah an ihr Ohr. „Ich hab dich vermisst", flüsterte er. Ihr Puls raste. Sie war überzeugt davon, dass er es hören müsste, das Hämmern in ihren Ohren, das Sausen des Blutes in ihrem ganzen Körper. Und wenn nicht das, dann spürte er zweifellos das Zittern ihrer Beine, das Zittern von überhaupt allem an ihr.
    Sie entgegnete, dass sie ihn auch vermisst hatte, was plötzlich fad und blass klang, fand sie, weil er es schon vor ihr ausgesprochen hatte. Dann redete sie einfach drauflos, sagte noch allerlei andere Sachen, an die sie sich Gott sei Dank zwei Minuten später nicht mehr erinnern konnte, weil es wohl ein ziemliches Gestammel war und sie sich dumm und kindisch vorkam und dabei doch nicht einmal wusste, warum.
    Und dann, Lalapeja.
    Es war eine ganz andere Art von Wiedersehen als mit Serafin, vor allem weil es, zumindest aus Merles Sicht, gar kein echtes Wiedersehen war. Sie konnte sich nicht an ihre Mutter erinnern, nicht an ihre Stimme, nicht wie sie ausgesehen hatte. Nur ihre Hände kannte sie, von all den Stunden, die sie einander im Inneren des Wasserspiegels festgehalten hatten. Aber Lalapejas Hände waren bandagiert, und Merle konnte sie nicht berühren und sich vergewissern, dass es dieselben waren, die sie von früher kannte.
    Nicht, dass sie sich allen Ernstes hätte vergewissern müssen. Sie wusste, dass Lalapeja ihre Mutter war, wusste es im selben Moment, da sie die Sphinx auf der Treppe gesehen hatte, noch bevor sie Serafin auf ihrem Rücken erkannt hatte. Das Einfachste wäre gewesen, es auf äußere Merkmale zu schieben, auf eine Ähnlichkeit der Augen, eine vergleichbare Form des Gesichts oder auf das lange dunkle Haar.
    Aber es war weit mehr, das Merle auf Anhieb mit Lalapeja verband: Die Sphinx besaß genau jenen Grad an Vollkommenheit, den Merle sich manchmal selbst in ihren Gedanken verlieh, jene Schönheit, die sie sich für sich wünschte und die sie vielleicht, wenn sie erwachsen war, besitzen würde. Aber noch war sie erst vierzehn, und in ihrem Gesicht würde sich einiges tun, bevor es zu jenem festen, unveränderlichen Antlitz ihres älteren Ichs werden würde. Zu jenem Antlitz, das sie jetzt vor sich sah, auf den schlanken Schultern einer Sphinx.
    Sie konnte Lalapeja nicht umarmen, weil sie Angst hatte, ihre Verletzungen zu berühren, und sie war auch nicht sicher, ob das bei ihrer ersten Begegnung angemessen wäre. So blieb es bei einem Wortwechsel, der von beiden mit einer gewissen Zurückhaltung, aber auch mit kaum verhohlener Freude geführt wurde. Lalapeja strahlte trotz ihrer Schmerzen - und es war nicht zu übersehen, dass sie echtes Glück empfand. Und wohl auch Erleichterung darüber, dass Merle ihr keine Vorhaltungen machte für das, was ihr als kleines Kind widerfahren war.
    Die ganze Zeit über sprach die Fließende Königin kein Wort. Schwieg einfach, als wäre sie kein Teil mehr von Merle. Als wäre ihr Geist bereits im Kampf mit dem Sohn der Mutter gefangen und hätte ihre Umgebung völlig ausgeschaltet,

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