Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
abermals ins Gedächtnis, dass der Pharao weit älter war, als sein Körper ihn erscheinen ließ. Unfassbar älter.
„Nur Illusion", flüsterte er noch einmal, als wären seine Gedanken woanders, an einem Ort tiefer Stille und Dunkelheit. In einem Grab, im Herzen einer Stufenpyramide.
„Wenn es das ist, was du denkst", sagte Seth, hob das Schwert und ließ es auf den Pharao niederfahren.
Es gab keine Gegenwehr.
Nicht einmal einen Schrei.
Amenophis starb still und demütig. Seth, der ihm das Leben geschenkt hatte, nahm es ihm wieder.
Nur ein Traum, mochte der Pharao selbst im Sterben denken, nur Gaukelwerk des Horuspriesters.
Junipa stieß das Portal auf und schlüpfte durch den Spalt. Draußen auf dem Gang machte sie vier, fünf Schritte, ehe sie sich der Stille bewusst wurde. Seth folgte ihr nicht.
Verunsichert blieb sie stehen.
Drehte sich um. Und ging zurück.
Tu das nicht!, schrie es in ihr. Lauf weg, so schnell du kannst!
Aber Junipa trat stattdessen vor die offene Tür und blickte noch einmal in den Saal.
Seth lag vor dem Leichnam des Pharaos am Boden, das Gesicht in ihre Richtung gewandt. Seine linke Hand war zur Faust geballt, die Rechte unklammerte den Griff des Schwertes. Die Sichelklinge steckte tief in seinem Körper. Er hatte sie sich selbst in den Leib gerammt, ohne einen Laut.
„Er hatte Unrecht", brachte er mühsam hervor und spuckte Blut aufs Parkett. „Al es ist... wahr."
Junipa überwand ihren Schrecken, ihren Widerwillen, ihren Ekel. Langsam trat sie in den Saal und ging auf den Diwan und die beiden Männer zu, die noch vor wenigen Tagen gemeinsam die Geschicke des größten und grausamsten Reiches der Menschheit gelenkt hatten. Nun lagen sie vor ihr, der eine tot in einem Meer aus Jaguarfellen, der andere sterbend zu ihren Füßen.
„Es tut mir Leid", flüsterte Seth schwach, „wegen des Spiegels - das war dumm."
Junipa ging neben ihm in die Knie und suchte nach Worten. Sie überlegte, ob sie etwas sagen müsste, das seinen Schmerz linderte, oder seine Enttäuschung. Aber vielleicht war es ja gerade das, was er getan hatte: Er hatte seinen Schmerz gelindert. Er hatte den Meister getötet, den er selbst erschaffen hatte, hatte zugleich das Kind und den Vater erschlagen.
Es ist gut so, dachte sie und hatte das Gefühl, dass der Gedanke davonschwebte wie eine Feder.
Wie eine letzte Illusion.
Schweigend streckte sie einen Zeigefinger aus und strich damit über die Streben des goldenen Gitternetzes, das in Seths Kopfhaut eingelassen war. Es fühlte sich kühl an und kein bisschen magisch.
Nur wie Metall, das man unter schrecklichen Schmerzen in Fleisch gepresst hatte. Es war genau das, wonach es aussah: ein Gitter aus Gold an einem Ort, an den es nicht gehörte.
Wie wir alle, dachte sie traurig.
„Geh nicht ... durch den Palast. Die Mumienkrieger sind überall. Es gibt niemanden mehr, der ... der sie kontrolliert."
„Was tun sie?"
„Ich ... weiß es nicht. Nichts, vielleicht. Oder ..." Er verstummte, setzte neu an: „Geh nicht. Zu gefährlich."
„Ich muss einen Spiegel finden."
Seth versuchte zu nicken, aber es gelang ihm nicht. Stattdessen streckte er zitternd einen Finger aus. Junipa blickte in die Richtung, in die er zeigte. Und sie sah, was er meinte.
Ja, dachte sie. Das könnte gehen.
„Leb wohl", keuchte Seth.
Junipa fixierte seinen Blick. „Für was? Ihr habt alles zerstört."
Seth konnte keine Antwort mehr geben. Seine Augen wurden trüb, die Lider flatterten ein letztes Mal.
Dann lief ein leichter Ruck durch seinen Körper, und er hörte auf zu atmen.
Junipa trat müde an die Wasserschale neben dem Diwan. Sie war groß genug. Junipa beugte sich mit dem Mund darüber und flüsterte das Gläserne Wort. Dann kletterte sie an dem marmornen Gefäß hinauf, schwang die Beine über den Rand und ließ sich hinab in ihr Spiegelbild. Der Stein in ihrer Brust zog sie nach unten.
Sphinxsplitter
Es war nicht leicht gewesen.
Ganz und gar nicht leicht.
Aber dann war es Merle irgendwie doch noch gelungen, Vermithrax zurückzuhalten, bevor er sich mit einem Brüllen über das Geländer schwingen und die Sphinx und den Jungen in Stücke reißen konnte.
Jetzt, viel später, am Fuß der eingeschneiten Treppe, blieb der Obsidianlöwe stehen und sah zu Lalapeja hinüber. Die Sphinx legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und schien zu wittern, wie es auch Vermithrax manchmal tat, aber bei ihr wirkte es weniger raubtierhaft. Selbst das, dachte Merle, tut
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