Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
beiden Seiten des Ganges zu einer Ebene ausdehnte. Das Licht war zu hell, als dass sie in der Ferne etwas hätte erkennen können. Auch Serafin und sogar Lalapeja sahen nicht, was Vermithrax mit seinen scharfen Raubkatzenaugen erspäht hatte.
„Sphinxe", sagte er. „Aber sie bewegen sich nicht."
„Wächter?", fragte Lalapeja.
„Viel eicht. Obwohl ich nicht glaube, dass das noch eine Rol e spielt."
Die Sphinx schenkte ihm einen verwunderten Blick, während Merle ihn sanft hinterm Ohr kraulte.
„Was meinst du damit?", fragte sie.
Er schnurrte kurz, vielleicht weil er die Berührung wirklich genoss, vielleicht auch nur, um ihr einen Gefallen zu tun. „Sie sind weiß", sagte er dann.
„Weiß?", wiederholte Serafin verwundert.
„Zu Eis erstarrt."
Merle spürte, unter welcher Anspannung Serafin stand. Es gefiel ihm nicht, untätig auf dem Rücken des Löwen zu sitzen und abzuwarten. Er brannte darauf, die Dinge wieder selbst in die Hand nehmen.
Sie verstand ihn gut; auch ihrem Naturell entsprach es nicht, einfach Opfer der Geschehnisse zu werden. Vielleicht hatte sie sich seit ihrer Begegnung mit der Königin zu sehr treiben lassen, hatte getan, was von ihr erwartet wurde, nicht das, wonach ihr wirklich der Sinn stand. Zugleich aber musste sie erkennen, dass sie nie eine Wahl gehabt hatte: Ihr Weg war vorgezeichnet gewesen, und selbst an den wenigen Kreuzungen hatte ein Abbiegen nicht zur Debatte gestanden. Nicht zum ersten Mal kam sie sich vor wie eine Puppe, die von allen herumgeschoben wurde, schlimmer noch: wie ein Kind. Dabei war sie doch gerade das im Grunde niemals gewesen. Im Waisenhaus hatte sie dazu gar keine Zeit gehabt.
Sie gingen weiter, und bald erkannten auch Merle und die anderen, was Vermithrax gemeint hatte.
Wie ein Wald aus Statuen schälten sich Umrisse aus dem allgegenwärtigen Weiß, erst kaum zu sehen, dann ein wenig deutlicher, schließlich so klar wie geschliffenes Glas. Und damit hatten die Sphinxe tatsächlich die größte Ähnlichkeit: mit Glas. Mit Eis.
Es waren über ein Dutzend, festgehalten in den unterschiedlichsten Posen der Angst und des Rückzugs. Einige hatten versucht, Winters Berührung zu entgehen, indem sie vor ihm davonliefen; andere hatten kämpfen wollen, aber der Ausdruck ihrer Gesichter verriet den Mut der Verzweiflung, oft sogar regelrechte Panik. Einigen waren die Waffen aus den Händen geglitten, Sichelschwerter, halb vom Schnee begraben. Ein Sphinx hielt noch sein Gewehr, doch als Serafin von Vermithrax' Rücken aus danach greifen wollte, stieß Merle einen warnenden Ruf aus: „Nicht! Deine Hände würden bei der Kälte daran kleben bleiben."
„Was ist hier passiert?", entfuhr es Lalapeja.
„Winter war hier", sagte Merle. „Al es, was er berührt, erstarrt zu Eis. Er hat's mir erzählt. Jedes Lebewesen, bis auf eine einzige Ausnahme - Sommer. Deshalb sucht er sie. Deshalb lieben sie sich."
Ein Knirschen drang an ihre Ohren. Neben ihnen ästelten sich Risse durch den Eiskörper eines Sphinx, und einen Augenblick später zerfiel er mit Getöse zu scharfkantigen Bruchstücken. Nur seine vier Löwenbeine blieben stehen. Sie steckten im Schnee wie eine Wegmarkierung, die jemand vergessen hatte.
Einen Augenblick lang rührte sich niemand, so als wären sie selbst zu Eis erstarrt. Keiner wusste, was den Sphinx hatte bersten lassen - bis Serafin fluchend auf einen kleinen Bolzen zeigte, der in einem der Trümmerstücke steckte.
„Jemand schießt auf uns!"
Merles Blick raste den Gang entlang, und sie musste nicht lange suchen, ehe sie den Sphinx entdeckte, der aus einem Torbogen heraus jetzt zum zweiten Mal auf sie anlegte. Ehe einer von ihnen reagieren konnte, drückte er ab. Lalapeja stieß einen Schrei aus, als das Geschoss ihre Schulter streifte und klirrend in einen Eissphinx hinter ihr krachte. Knirschend und splitternd brach er auseinander.
Im Rücken des Schützen erschienen weitere Sphinxe, doch nur einige waren bewaffnet. Mehrere hielten kleine Meißel und Hämmer in den Händen, außerdem Glasgefäße und Beutel.
Sie wollen die Toten untersuchen, dachte Merle. Sie schlagen kleine Stücke ab, um sie zu erforschen und so vielleicht auf eine Schwachstelle ihres Gegners zu stoßen.
Unglücklicherweise war der Forschertrupp in Begleitung mehrerer Krieger, die so gar nicht wie die vergeistigten Geschöpfe wirkten, die Lalapeja vorhin beschrieben hatte. Sie waren groß und muskulös, mit breiten Löwenleibern und wuchtigen
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