Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Abgrund.
„Da vorne!", brüllte Merle durch den Flockenregen. Schnee geriet in ihren Mund. „Die Brücke!"
Ein schmaler Steg aus Spiegelglas spannte sich wie eine Gitarrensaite über die unendliche Leere. Er war kaum mehr als einen Meter breit und besaß kein Geländer; beide Enden lagen irgendwo im Schneegestöber verborgen.
Vermithrax flog darauf zu, und im besten Vertrauen auf die Baukunst der Sphinxe ließ er sich nieder.
Es gab eine leichte Erschütterung, aber keinerlei Anzeichen dafür, dass die Konstruktion unter seinem Gewicht nachgeben würde. Zu beiden Seiten des Steges lösten sich auf einer Länge von fünf, sechs Metern die Schneekanten und stürzten in die weißgraue Tiefe.
Vermithrax schüttelte seine Flügel, bis die klumpige Eisschicht abfiel, die ihn im Flug behindert hatte.
Serafin wollte seine Mantelenden so weit vorziehen, dass sie Lalapejas nackte Schenkel bedeckten, doch sie wehrte ab.
„Lass mich herunter. Hier kann ich wieder selbst laufen. Vermithrax wird bei dem Schnee ohnehin nicht mehr fliegen."
„Der Steg ist zu schmal", sagte Serafin. „Wenn du seitwärts von Vermithrax absteigst, stürzt du in die Tiefe."
„Und nach hinten?"
Serafin und Merle schauten gleichzeitig über ihre Schultern. Der Anblick des Abgrunds auf beiden Seiten des Stegs war beängstigend. Als Meisterdieb war Serafin jahrelang über Venedigs Dächer geturnt, ohne mehr als einen Gedanken an die Gefahr zu verschwenden. Dies hier aber war etwas anderes. Wenn er auf dem nassen, pappigen Schnee ins Rutschen geriet, gab es nichts, das ihn retten konnte, weder Glück noch Geschick.
„Ich versuch's", sagte er.
„Nein!", widersprach Merle. „Hört auf mit dem Unsinn."
Er blickte an Lalapeja vorbei zu Merle. „Ihre Beine werden erfrieren, wenn sie sich nicht zurückverwandelt. Dafür muss sie absteigen."
Merle funkelte ihn an: Als ob sie das nicht selbst wüsste. Trotzdem hatte sie Angst um ihn und Lalapeja. Dabei kam ihr der Gedanke, dass die Sphinx tatsächlich ihre Mutter war, nach der Verwandlung von vorhin beinahe noch absurder, noch unglaublicher vor.
„Sei vorsichtig", sagte Lalapeja, als Serafin langsam rückwärts rutschte.
„Mutig", kommentierte die Fließende Königin trocken.
„Halt ja still!", rief Serafin Vermithrax zu. Seine Stimme klang verbissen. Merle hielt den Atem an.
„Keine Sorge", entgegnete der Löwe und bewegte sich tatsächlich um keinen Millimeter. Selbst sein Herzschlag, den Merle die meiste Zeit über deutlich an ihren Unterschenkeln spürte, schien innezuhalten.
Serafin glitt unendlich behutsam über Vermithrax' Hüften nach hinten. Dabei bekamen seine Hände den Schwanz des Löwen zu packen; er gab ihm zusätzliche Stabilität, als seine Stiefelsohlen in den Schnee sanken. Einen Moment lang schwankte er leicht und warf argwöhnische Blicke nach rechts und links in den Abgrund. Schließlich gab er Lalapeja das Zeichen, ihm zu folgen. Seine Füße schienen auf dem lockeren Schneematsch zu schwimmen, so unsicher war sein Halt auf dem Steg. Eine überhastete Bewegung, und er würde mitsamt einer riesigen Schneescholle über die Kante schlittern.
Er ließ den Löwenschweif los, um den Weg für Lalapeja frei zu machen. Behände rutschte sie nach hinten und vom Löwen herab, während Merle sich den Hals verdrehte und sorgenvoll das Geschehen in ihrem Rücken beobachtete.
„Sie schaffen das schon", sagte die Königin.
Du hast gut reden, dachte Merle.
„Tritt noch einen Schritt zurück", sagte die Sphinx zu Serafin. „Aber vorsichtig."
Unendlich behutsam bewegte er sich nach hinten, bemüht, der Tiefe unter ihm keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken.
„Gut", sagte Lalapeja. „Und jetzt setz dich auf den Boden. Stütz dich dabei mit den Händen auf."
Das tat er. Ihm war schlecht und schwindelig, Meisterdieb hin oder her. Erst als er einigermaßen sicher im Schnee saß, atmete er tief durch.
Lalapeja verwandelte sich in eine Säule aus aufstiebendem Sand, aus dem in Windeseile wieder Fleisch und Haar und Knochen wurden. Nachdem die Sphinx in ihrer Löwengestalt dastand, bat sie Serafin, auf ihren Rücken zu klettern. Er gehorchte, und die Blässe wich aus seinen Zügen. Es beruhigte ihn ein wenig, dass Lalapeja und Vermithrax vier Beine besaßen, die ihnen hier oben ausreichend Halt gaben. Ihrem Raubkatzenerbe hatten sie zu verdanken, dass der Sog des Abgrunds keine Gewalt über sie hatte. Nicht nur dem geflügelten Vermithrax, sondern auch Lalapeja war
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