Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Höhenangst fremd, genau wie jede ungeschickte oder überflüssige Bewegung.
Ein Schauder der Erleichterung durchlief Merle, als Serafin endlich sicher auf Lalapejas Rücken saß.
Einen Moment lang hatte sie sogar die Kälte vergessen, die ihr mehr und mehr zu schaffen machte.
Jetzt erst spürte sie wieder den Biss des Frostes, die eisige Last des Schnees und das klirrende Zerren der Höhenwinde.
„Was jetzt?", fragte Vermithrax.
„Wir folgen dem Steg", schlug Merle vor. „Oder hat jemand eine bessere Idee?"
Auf acht Löwentatzen bewegten sie sich vorwärts, ungewiss, was sie jenseits des dichten Schneetreibens erwarten mochte.
Schon nach wenigen Schritten hielt Vermithrax abermals inne. Merle entdeckte das Hindernis im selben Augenblick.
Vor ihnen auf dem schmalen Band kauerte eine Gestalt.
Ein Mann im Schneidersitz.
Das lange Haar war schlohweiß, die Haut sehr hell, als hätte jemand die reglose Figur aus Schnee geformt. Der Mann hatte den Kopf in den Nacken gelegt, die geschlossenen Augen in die Höhe gerichtet. Seine knochigen Hände waren um die Knie gekrallt, die dunkelblauen Adern traten deutlich hervor.
„Er meditiert", sagte Lalapeja erstaunt.
„Nein", erwiderte Merle leise. „Er sucht."
Winter senkte das Haupt und blickte ihnen müde entgegen.
Der einzige Weg
Es schien fast, als hätte er sie erwartet.
„Merle", sagte er, und es klang weder erfreut noch verärgert. „Sie ist hier. Sommer ist hier."
„Ich weiß."
Vermithrax war bis auf zwei Schritte an ihn herangetreten.
„Komm nicht näher", sagte Winter. „Ihr würdet alle zu Eis erstarren, wenn ihr mich berührt."
„Du hast die Sphinxe getötet", sagte Merle.
„Ja."
„Wie viele sind noch übrig?"
„Ich weiß es nicht. Nicht genug, um sich mir zu widersetzen."
„Kennst du den Ort, an dem sie Sommer verstecken?"
Er nickte und deutete in den Abgrund.
„Dort unten?" Merle ärgerte sich, dass sie ihm jedes Wort aus der Nase ziehen musste.
Noch ein Nicken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der dichte Schnee einen Bogen um ihn machte. Keine Eiskristalle verfingen sich in seinem Haar, keine Flocken klebten an seiner weißen Kleidung. Nicht einmal der Atem kam in Wolken über seine Lippen. Es war, als wäre Winter selbst gar kein Teil jener Jahreszeit, die er verkörperte.
„Ich bin bis hierhergekommen", sagte er, „aber jetzt fehlt mir die Macht, auch noch den letzten Schritt zu gehen."
„Das verstehe ich nicht."
„Sommer wird am Grund dieses Schachts festgehalten. Es gibt keine anderen Eingänge, ich habe alles abgesucht."
„Und?"
Winter lächelte zaghaft und sehr verletzlich. „Wie soll ich dort runterkommen? Springen?"
Sie war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ein Wesen wie er zu fliegen vermochte, wenn es darauf ankam. Doch das konnte er nicht. Er hatte Ägypten und das Eiserne Auge mit einer neuen Eiszeit überzogen, aber er war nicht in der Lage, zum Grund dieses Schachtes vorzustoßen.
„Wie lange sitzt du schon hier?"
Winter seufzte. „Viel zu lange."
„Er ist ein weinerlicher Jammerlappen", schimpfte die Fließende Königin. „Daran ändert auch all dieses Getöse nicht, das er um sich herum veranstaltet."
Sei nicht so ungerecht, dachte Merle.
„Pah! Ein Jammerlappen." Hätte die Königin eine eigene Nase besessen, hätte sie diese wohl gerümpft. „Wie lange kann er denn schon hier sein? Er hat die Höl e erst kurz vor uns verlassen."
Er ist eben ... na ja, empfindsam. Er übertreibt.
„Empfindsam? Ein Lügner ist er! Wenn er in so kurzer Zeit von der Pyramide bis hierher ins Delta gelangt ist und es dann noch geschafft hat, durch das Auge zu streifen und hunderte von Sphinxen einzufrieren ... das ist verflixt schnell, findest du nicht auch?"
Merle blickte über die Schulter zurück zu Serafin und Lalapeja. Beide sahen ungeduldig aus, aber auch unsicher angesichts des seltsamen Geschöpfs, das vor ihnen den Steg blockierte.
Sie wandte sich wieder Winter zu. „Du kannst wirklich nicht fliegen?"
„Nicht dort hinunter. Ich reite auf den Eiswinden und dem Schneetreiben. Aber hier ist das bedeutungslos."
„Wie meinst du das?"
Wieder seufzte er aus tiefstem Herzen, während die Königin übertrieben stöhnte. „Ich will es dir erklären, Merle", sagte er. „Und deinen Freunden, wenn sie es hören wol en."
Serafin knurrte etwas, das klang wie: „Was bleibt uns denn anderes übrig?"
„Sommer befindet sich auf dem Boden dieses Schachtes. Ihre Kraft, ihre Sonnenhitze,
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