Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
nicht zu übersehen. Ein Versteck kam nicht infrage, zumal es kaum Türen gab, nur offene Torbögen, die in weite Hallen führten, unendliche Räume in dieser Nachbildung der Spiegelwelt.
    Sie überquerten offene Kanäle mit gefrorener Oberfläche und filigrane Brücken, die zerbrechlich aussahen und doch nicht einmal erzitterten, als der tonnenschwere Obsidianlöwe darüber hinwegdonnerte. Sie kamen durch eine Hügellandschaft aus Spiegelscherben, haushohe Halden aus silbernen Spänen und Klingen, und liefen dann wieder Treppen hinab, und weitere Treppen und noch mehr Treppen.
    Die ganze Zeit über blieben die Verfolger auf ihrer Spur, oft verborgen hinter Windungen und Ecken, aber doch stets als Woge aus Lärm präsent, als Trampeln von Löwenpranken auf Eis, als Brüllen zorniger Stimmen, als Wirrwarr wilder Flüche und Befehle.
    Und dann stolperten sie erneut durch hohen Schnee, feuchter und schwerer als zuvor, so hoch, dass Vermithrax bis zum Bauch darin versank und Lalapeja schon nach wenigen Schritten hoffnungslos feststeckte. Der Obsidianlöwe schob mit seinen Schwingen Schneemassen beiseite, aber es stellte sich bald heraus, dass er sie damit kaum weiterbrachte.
    „Vermithrax", rief Lalapeja, „kannst du noch einen dritten Reiter tragen?"
    „Noch zwei oder drei, wenn der Platz reicht. Aber das hilft uns nicht viel."
    „Viel eicht doch." Und noch während sie sprach, ging eine Veränderung mit ihr vor.
    Merle sah mit offenem Mund und großen Augen zu, während Serafin beruhigend ihre Hand nahm.
    „Keine Sorge", flüsterte er, „das macht sie öfters."
    Rund um Lalapeja schienen aus den Stapfen, in denen ihre Löwenbeine feststeckten, gelbe Sandfontänen emporzuschießen. Sie hüllten sie in Sekundenschnelle ein, ehe sie sich selbst darin auflöste, gerade so als explodiere ihr ganzer Körper in einer Eruption aus Wüstenstaub. Ebenso schnell setzten sich die winzigen Partikel wieder zusammen, und Lalapeja tauchte daraus auf, unverändert oberhalb der Hüften, darunter aber zum Mensch geworden, mit langen schlanken Beinen, die trotz der Kälte nackt waren. Ihre Felljacke, die sie von den Piraten erhalten hatte, reichte bis hinab auf ihre Oberschenkel, doch ihre Knie und Unterschenkel standen ungeschützt im Schnee.
    Serafin ließ Merle los und rückte ein Stück nach hinten. „Schnel , hierher!", rief er.
    Lalapeja kämpfte sich durch den Schnee heran, und Merle und Serafin zogen sie zwischen sich auf den Löwen. Die Sphinx konnte ihre verletzten Arme nicht benutzen, und wenn sie noch viel länger mit nackten Füßen im Schnee stand, würde es ihren Beinen ebenso ergehen. Serafin rückte so eng wie möglich an sie heran, legte seine Arme um sie herum bis zu Merle und brüllte: „Los!"
    Vermithrax erhob sich vom Boden und schüttelte den Schnee von seinen Pranken. Er jagte über das Eis hinweg, nur wenige Meter von der Spiegeldecke entfernt. Die Wände waren kaum breit genug für seine riesigen Schwingen, aber irgendwie gelang es ihm, nicht mit den Spitzen anzuecken und seine Reiter sicher über den Schnee zu tragen. Ihre Verfolger blieben zurück, während sie ihrerseits versuchten, durch den hohen
    Schnee zu stapfen, und schon nach wenigen Schritten aufgeben mussten.
    Mit triumphierendem Brüllen schoss Vermithrax am Ende des Tunnels aus einer runden Öffnung in eine ungleich höhere Halle, in der es noch immer schneite, aus grauem Nebel, der unter der Decke hing wie echte Winterwolken. Die Flocken waren dicht und bauschig. Sie klebten sofort zu tausenden und abertausenden an Vermithrax und seinen Reitern und drangen in ihre Augen. Die Glut des Löwen wurde grell reflektiert, wie Vorhänge aus Lichtschein. Die Sicht reichte nur noch wenige Meter.
    „Ich kann nichts sehen!" Vermithrax schlingerte im Flug und nieste einmal so heftig, dass Merle befürchtete, die Erschütterung würde sie alle von seinem Rücken werfen. Was immer sein Bad im Steinernen Licht bewirkt hatte, es hatte ihn nicht immun gegen eine Erkältung gemacht.
    Der Obsidianlöwe hatte Mühe, seine Höhe zu halten. Im Schneegestöber war er so gut wie blind, und der nasse Schnee lastete schwer auf seinen Flügeln. „Ich muss runter", rief er schließlich, aber da hatten sie alle längst erkannt, dass dieses Manöver unvermeidbar war.
    Mit den Schneeflocken sanken sie abwärts, tiefer und tiefer, aber der Boden, den sie erwarteten, kam nicht. Was sie für eine Halle gehalten hatten, war in Wirklichkeit ein gewaltiger Schacht, ein

Weitere Kostenlose Bücher