Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
wenn du so willst, steigt normalerweise durch den Schacht nach oben. Kein Mensch könnte sich dem Boden nähern, er würde innerhalb eines Herzschlags verbrennen."
Merle verlagerte nervös ihr Gewicht und blickte von Vermithrax' Rücken hinab in die Tiefe. Sie sah nichts als weißgraues Chaos. Und sie fror immer stärker, fror jetzt ganz entsetzlich.
„Meine Anwesenheit hier im Schacht unterbricht den Hitzefluss", fuhr er fort. „Eis und Feuer treffen irgendwo dort unten aufeinander, auf halbem Weg zwischen mir und ihr. Der Schnee schmilzt schlagartig in der Luft, die Kälte verwandelt sich in Hitze. Manchmal toben Gewitter und Stürme, wenn wir uns begegnen. Ich könnte mich von den Eiswinden nach unten tragen lassen, aber Sommer ist gefangen und hat ihre Hitze nicht unter Kontrolle. Sie ist geschwächt und nicht in der Lage, sich abzukühlen, wie sonst, wenn wir uns begegnen. Die Winde würden dort unten zu einem lauen Luftzug verpuffen, das Eis würde schmelzen und ich selbst ... nun, stell dir eine Schneeflocke auf einer Ofenplatte vor." Er vergrub das knochige Gesicht in den Händen. „Hast du es jetzt verstanden?"
Merle nickte unbehaglich.
„Dann begreifst du sicher auch die völlige Hoffnungslosigkeit meiner Lage", proklamierte er gestenreich.
„Das darf doch nicht wahr sein", sagte die Königin giftig. „Dieser Kerl hat gerade fast ein ganzes Volk ausgelöscht, und nun sitzt er hier und flennt!"
Du könntest ruhig ein wenig mehr Mitgefühl zeigen.
„Ich kann ihn nicht leiden."
Du warst bestimmt auch nicht jedermanns Liebling unter den Göttern.
„Frag ihn, ob er schon mal was von dem Wort Würde gehört hat."
Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.
„Ich könnte es für dich erledigen."
Untersteh dich!
Serafin unterbrach sie. „Merle, was ist jetzt? Wir können nicht ewig hier stehen bleiben."
Natürlich nicht, durchfuhr es sie fröstelnd.
Vermithrax ergriff das Wort. „Ich weiß eine Lösung."
Alle schwiegen angespannt, nur die Königin murmelte missmutig: „Was immer es ist - es sollte besser schnell gehen. Wir haben keine Zeit mehr. Der Sohn der Mutter erwacht." „Ich könnte dort runterfliegen und versuchen, Sommer zu befreien", sagte Vermithrax. „Ich bin aus Stein, Hitze und Kälte können mir nichts anhaben ... glaube ich zumindest. Außerdem habe ich das Bad im Steinernen Licht überstanden, da werde ich wohl auch hiermit fertig werden. Wenn Sommer frei ist, kann ich Winter zu ihr tragen. Oder sie zu ihm."
Merles Finger krallten sich noch tiefer in seine Mähne. „Kommt gar nicht infrage!"
„Es ist der einzige Weg."
Merle spürte, dass die Königin Macht über ihre Stimme ergreifen wollte, doch sie drängte sie grob zurück. Zum letzten Mal, fuhr sie die Königin in Gedanken an, lass das sein!
„Er gefährdet alles, wenn er das tut! Ohne ihn kommen wir nicht weit."
Du meinst, wenn er nicht das tut, was du sagst, oder?
„Darum geht es nicht."
Oh doch, genau darum geht es, dachte Merle. Du hast ihn ausgenutzt, genauso wie du mich ausgenutzt hast. Du wusstest von Anfang an, dass wir hierher gehen würden, dass uns gar keine andere Wahl bliebe. Du hast uns immer genau dorthin gebracht, wo du uns haben wol test. „Und damit ist jetzt Schluss!" Die letzten Worte hatte sie laut ausgesprochen, alle hörten es und sahen sie verständnislos an. Sie war rot geworden, und die Hitze, die ihr ins Gesicht stieg, fühlte sich in der eiskalten Luft beinahe angenehm an.
„Sie wil es nicht", stellte Vermithrax fest.
Merle schüttelte verbissen den Kopf. „Im Augenblick zählt nicht, was sie will."
Der Löwe wandte sich an Winter. „Was wird geschehen, wenn Sommer frei ist?"
Der Albino machte eine dramatische Bewegung mit den Händen, die das Eiserne Auge in seiner Gesamtheit umfasste. „Das, was immer geschehen ist. All das hier wird seine Macht verlieren. Genau wie früher."
Merle horchte auf. „Wie bei den Subozeanischen Reichen?" Es war eine Vermutung, aber sie traf haarscharf ins Ziel.
Winter nickte. „Sie waren nicht die Einzigen, die es versucht haben, aber ihr Scheitern war das spektakulärste." Er überlegte kurz. „Wie soll ich es erklären? Sie zapfen ihr die Kraft ab, die Kraft der Sonne - das beschreibt es vielleicht am besten. Sie erkennen nicht, dass sie damit nur sich selbst schaden. Sie wissen um die Fehler der Alten, aber sie begehen sie dennoch ein ums andere Mal. Sie sind so entsetzlich schwach, und denken, sie seien unendlich stark." Winter
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