Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
Tiefe. Nach wenigen Metern stabilisierten seine Schwingen den Flug, und ein paar Augenblicke später war er nur noch ein glühender Schemen hinter Vorhängen aus Eis und Schnee.
Zuletzt verblasste er ganz, wie eine Kerzenflamme, die in weißem Wachs ertrinkt.
„Er wird es schaffen", flüsterte die Königin.
Und wenn nicht?, dachte Merle. Was wird dann aus uns?
Lalapeja schloss ihre Tochter noch fester in die Arme, ungeachtet ihrer bandagierten Hände. Merle drehte sich zu ihr um und blickte ihr aus nächster Nähe in die Augen.
Und so standen sie lange Zeit da, und niemand sprach ein Wort.
Vermithrax spürte es, spürte das Steinerne Licht in sich und wusste doch, dass es ihm nichts anhaben konnte. Als er im Licht gebadet hatte, unten in der Kuppel von Axis Mundi, da hatte er es fühlen können - nichts Greifbares, kein klares Empfinden. Aber er hatte gewusst, dass da etwas in ihm war, das ihn vor dem Licht beschützte und sich zugleich mit ihm vereinigte. Jetzt war ihm klar, dass es das Erbe Sekhmets war, der Urmutter aller Steinlöwen und Sphinxe, der Fließenden Königin. Sie war vom Strahl des Steinernen Lichts berührt worden, und ein wenig von dieser Berührung war auch auf die Löwen übergegangen. Als er in das Licht gestürzt war, hatte es sich in Vermithrax wiedererkannt und ihn geschont. Mehr noch: Es hatte ihn stärker gemacht als jemals zuvor. Vielleicht ungewollt, doch das spielte keine Rolle mehr.
Er war Vermithrax, der größte und mächtigste unter den Löwen der Lagune. Und er war hier, um zu tun, weshalb er geboren war. Wenn er dabei umkäme, schloss sich damit nur der Kreis seines Daseins.
Und falls Seth die Wahrheit gesagt hatte, war er ohnehin der Letzte seines Volkes, der Letzte jener Löwen, die fliegen und sprechen konnten. Der letzte Freie seiner Art.
Mit weiten Schlägen seiner Schwingen stieß er in die Tiefe, flog mit den Schneeflocken abwärts, überholte sie, schoss wie ein Komet durch ihre Mitte in den Abgrund. Bald kam es ihm vor, als würden sie kleiner und feuchter, nicht mehr die wattigen Flocken von weiter oben, sondern matschige Punkte, dann Tropfen. Aus Schnee wurde Regen. Mit Einsetzen der Hitze verdampfte auch das Wasser, und er kam in eine Zone angenehmer Wärme, dann Hitze, schließlich brüllender Glut. Die Luft um ihn waberte und kochte, aber er atmete sie ein wie die Eisluft der Himmelshöhen, und seine Lunge, glühend wie alles an ihm, saugte den Sauerstoff heraus und hielt ihn am Leben.
Er behielt Recht. Das Licht, das ihn stark gemacht hatte, bewahrte ihn vor Hitze und Kälte gleichermaßen.
Bald war es so heiß, dass selbst Stein zu Glas zerschmolzen wäre, doch sein Obsidianleib hielt stand. Die fernen Wände des Schachts waren längst nicht mehr zu erkennen; aus welchem Material sie auch immer bestanden, es stammte nicht von dieser Welt. Aus Zauberspiegeln vielleicht, wie der Rest des Eisernen Auges. Oder aus purer Magie. Er verstand wenig von diesen Dingen, und sie interessierten ihn nicht. Er wollte nur die Aufgabe erfüllen, die er sich gestellt hatte. Sommer befreien.
Die Sphinxe bezwingen. Den Sohn der Mutter aufhalten.
Dann sah er sie.
Erst war ihm gar nicht bewusst, dass sich unter ihm bereits der Boden des Schachts befand. Ebenso gut hätte es ein See aus Feuer sein können, noch mehr Glut in diesem Meer aus Hitze. Aber es war ein reines, natürliches Licht, nicht jenes aus Stein, das in der Hölle seine Netze aus Niedertracht und Kriegen spann. Dies hier war das Licht, das Wärme gebar, das Licht, in dessen Strahlen sich Vermithrax' Löwenvolk auf den Felsterrassen Afrikas gesonnt hatte.
Das Licht des Sommers.
Da lag sie, ausgestreckt in einem See aus Gleißen und Lodern, getragen von heißer Luft, schwebend über dem Boden wie eine Frucht, die es nur noch zu pflücken galt.
Es gab keine Wächter, keine Ketten. Beide wären innerhalb eines Herzschlags verglüht. Was sie hier unten festhielt und in Trance versetzt hatte, war einzig die Magie der Sphinxe.
Vermithrax hielt sich mit sanftem Flügelschlag über der schwebenden Sommer und blickte einen Moment lang auf sie hinab. Sie sah Winter ähnlich wie eine Schwester, groß und dünn, fast knochig.
Gesund wirkte sie nicht, nicht im Sinne der Menschen, aber das mochte in ihrer Natur liegen. Ihr Haar war aus Feuer. Flammen loderten auch hinter ihren Lidern, gelb und rot wie glühende Kohlen. Ihre Lippen waren seidig wie Blütenblätter, ihre Haut blass, ihre Fingernägel Sicheln aus purer
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