Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort
hatte. Doch es war Serafin, der die Frage aussprach, die sie al e sich stellten: „Und das war wirklich alles?"
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Es fiel kein Schnee mehr, und die Winterwinde um sie herum waren beinahe völlig verebbt. Still standen sie über dem Abgrund, dessen Boden tief unter ihnen glänzte wie ein See aus Silber.
„Nein", sagte Merle, und abermals war es die Fließende Königin, die aus ihr sprach. „Das war ganz und gar nicht alles."
„Aber -" Serafin wurde unterbrochen, als Merle den Kopf schüttelte und die Königin sagte: „In diesen Augenblicken ist es geschehen. Die Sphinxe haben Sommers letzte Energien genutzt und ihr Ziel erreicht."
„Der Sohn der Mutter?", fragte Vermithrax düster.
„Ja", sagte die Königin durch Merles Mund. „Der Sohn der Mutter ist erwacht. Ich spüre ihn, nicht weit von hier. Und jetzt gibt es nur noch eine, die es mit ihm aufnehmen kann."
Wie schon einmal. Wie damals.
Mutter gegen Sohn. Sohn gegen Mutter.
„Sekhmet", sagte Merle bebend, jetzt wieder Herrin ihrer Stimme. „Nur Sekhmet selbst kann ihren Sohn noch aufhalten. Aber dafür -" Sie zögerte und suchte benommen nach Worten, die sie eigentlich längst kannte, weil die Königin sie ihr vorgegeben hatte. „Sie sagt, dass sie dafür ihren alten Körper braucht."
Der Sohn der Mutter
Es begann mit einer Sonnenbarke, die irgendwo über dem Mittelmeer vom Himmel fiel. Sie stürzte ab wie ein toter Vogel, den der Schuss eines Jägers aus dem Hinterhalt getroffen hatte. Die goldene Sichel trudelte in einer engen Spirale in die Tiefe, und der Sphinx an Bord konnte nichts tun, um den Absturz aufzuhalten. Im Zentrum einer schäumenden Fontäne klatschte die Barke in die See.
Salzwasser sprudelte von allen Seiten durch Sichtschlitze und undichte Schweißnähte. Sekunden später war sie verschwunden.
Anderswo, über Land, ereigneten sich ähnliche Szenen. Sonnenbarken voller Mumienkrieger fielen aus den Wolken und zerschellten auf blankem Fels, auf verödeten Äckern, zwischen den Wipfeln tiefer Wälder. Manche stürzten über Städten ab, häufig inmitten ausgebrannter Ruinenfelder, manchmal auch in die Dächer bewohnter und unbewohnter Häuser. Einige versanken in Sümpfen und weiten Marschen, andere wurden von Dschungeln verschluckt oder von Wüstendünen. Hoch in den Gebirgen schrammten sie an Steilwänden entlang und zerrissen an Felsnasen.
Dort, wo Menschen Zeugen der Ereignisse wurden, brachen sie in Jubel aus, ohne zu ahnen, dass die Ursache für all das ein Mädchen und ihr bunter Haufen von Gefährten im fernen Ägypten waren.
Andere unterdrückten ihre Freude, aus Furcht vor den Mumienkriegern, die sie bewachten - bis sie bemerkten, dass auch mit jenen eine Veränderung vorging.
Überall auf der Welt zerfielen Mumien zu Staub und trockenem Gebein, zu fleckigem Leichenfleisch und klapperndem Rüstzeug. An einigen Orten war es eine Sache weniger Atemzüge, während derer ganze Völker schlagartig von ihren Unterdrückern befreit wurden; anderswo dauerte es Stunden, bis auch der letzte Mumienkrieger nur noch ein regloser Leichnam war.
Sphinxe versuchten, die Arbeiter in den Mumienfabriken in Schach zu halten, doch sie waren zu wenige, die meisten von ihnen hatten sich längst auf den Weg zum Eisernen Auge gemacht. Auch gab es keine Horuspriester mehr, die den Niedergang hätten aufhalten können; Amenophis selbst hatte sie ausgelöscht. Und was die menschlichen Diener des Imperiums anging, so war ihre Zahl zu klein, ihr Wille zu schwach und ihre Kraft zu gering, um der aufflammenden Rebellion ernsthaften Widerstand zu leisten.
Das Ägyptische Imperium, über Jahrzehnte hinweg errichtet, ging innerhalb weniger Stunden zugrunde.
An der Grenze zum freien Zarenreich dauerte es nicht lange, ehe die Verteidiger auf den Mauern und Palisaden, in den Schützengräben und den Türmen der einsamen Tundrafestungen die Wahrheit erkannten. Sie wagten Vorstöße, die rasch zu Feldzügen wurden - Feldzügen gegen einen Feind, der plötzlich keiner mehr war, gegen zerbröckelnde Mumienleiber und zerschmetterte Sonnenbarken.
Vielerorts stürzten die mächtigen Sammler aus den Wolken, die gefürchteten Flaggschiffe des Imperiums. Manche im tristen Nirgendwo, eine Hand voll auch über Städten. Einige rissen hunderte von Sklaven mit in den Tod. Dann waren auch sie ausgelöscht, in einem einzigen Handstreich des Schicksals.
Hier und da mühten sich vergeblich ein paar Sphinxe, ihre Fluggeräte am
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