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Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort

Titel: Die Merle-Trilogie 03 - Das Gläserne Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihre Stimme erlosch zu einem Krächzen.
    „Ja", sagte Junipa sanft, „es ist vorbei."

Schneeschmelze
    Man hatte sie auf Vermithrax‘ Rücken gehoben. Jemand saß hinter ihr und hielt sie fest. Serafin?
    Nein, nicht er. Es musste Unke sein. Mit ihrem gebrochenen Bein konnte sie nicht laufen.
    Junipa führte sie durch die Spiegelwelt. Sie ging voran, gefolgt von Vermithrax, der mit seinen angelegten Schwingen die beiden Reiterinnen auf seinem Rücken festhielt. Sein Herzschlag raste, sein Atem ging keuchend vor Erschöpfung. Merle hatte das Gefühl, dass er humpelte, war aber selbst zu geschwächt, um das mit Bestimmtheit zu sagen. Müde sah sie über ihre Schulter. Hinter dem Löwen lief Lalapeja in ihrer Sphinxgestalt. Den Abschluss bildeten Dario, Tiziano und Aristide.
    Etwas lag quer über Lalapejas Rücken, ein langes Bündel. Merle konnte es nicht genau erkennen.
    Alles war verschwommen, und sie erlebte ihre Umgebung wie in einem Traum. Was sie niemals für möglich gehalten hatte, war eingetreten: Sie vermisste die fremde Stimme in ihrem Inneren, jemanden, der ihr Mut machte oder mit ihr stritt; der auf sie einredete und ihr das Gefühl gab, dass zusammen mit ihrem Körper nicht auch ihre Sinne erschlafft waren. Jemand, der sie infrage stellte, sie wach hielt, sie stets und ständig herausforderte.
    Jetzt aber hatte sie nur noch sich selbst. Nicht einmal Serafin.
    Im selben Moment wusste sie, was Lalapeja auf ihrem Rücken trug. Es war kein Bündel. Ein Körper.
    Serafins Leichnam. Sie dachte an seinen letzten Kuss.
    Erst viel später wurde Merle klar, dass ihr Weg durch das silbrige Labyrinth der Spiegelwelt eine Flucht war. Jene, die laufen konnten, beeilten sich - allen voran Junipa, die an diesem Ort, endlich wieder frei vom Steinernen Licht, an Kraft und Entschlossenheit gewann.
    Wie in Trance dachte Merle zurück an jenen Tag, an dem Junipa und sie zum ersten Mal die Spiegelwelt betreten hatten. Arcimboldo hatte ihnen das Tor geöffnet, damit sie für ihn die unliebsamen Schemen in seinen Spiegeln einfingen. Junipa war unsicher gewesen, hatte Angst gehabt. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Sie bewegte sich auf den geheimen Spiegelwegen, als gehörte sie hierher, als hätte sie nie etwas anderes gekannt.
    Um sie herum erloschen immer wieder einzelne Spiegel wie Fenster in der Nacht. Bei einigen splitterte das Glas, ein kalter, starker Sog entstand und zerrte an jenen, die vorübereilten. In manchen Gängen war es, als fräße ein schwarzer Schatten die Wände auf, während sich ein Spiegel nach dem anderen dunkel färbte. Manche zerplatzten, als Vermithrax an ihnen vorbeilief. Winzige Scherben ergossen sich über die Gefährten wie Sternensplitter.
    Je länger sie jedoch unterwegs waren, desto seltener wurden die berstenden Spiegel. Die Erinnerung an die schwarzen Schlünde verblasste, und bald gab es keine Anzeichen mehr für die Vernichtung, die hinter ihnen zurückblieb. Ringsherum glänzte reines Silber, flackernd im Licht der Orte und Welten, die sich dahinter befanden. Junipa wurde langsamer, und mit ihr die ganze Gruppe.
    Merle versuchte sich aufzurappeln, sank aber gleich wieder nach vorn in Vermithrax' Mähne. Von hinten spürte sie Unkes Hand an ihrer Taille, die sie festhielt. Merle hörte Stimmen: Junipa, Vermithrax, Unke. Aber sie verstand nicht, was sie redeten. Anfangs hatten sie noch hektisch, aufgeregt, fast panisch geklungen. Jetzt wurden ihre Worte ruhiger, dann spärlicher, bis schließlich alle in tiefem Schweigen liefen.
    Merle wollte sich noch einmal zu Lalapeja umschauen, zu Serafin, aber Unke ließ das nicht zu. Oder war es nur ihre eigene Kraftlosigkeit, die sie zurückhielt?
    Sie spürte, dass ihr Geist wieder fortdämmerte, dass die Bilder abermals unscharf wurden, die Laute ihrer Schritte dumpfer und ferner. Als jemand sie ansprach, verstand sie nicht, was er sagte.
    War das gut so?
    Nicht einmal darauf wusste sie eine Antwort.
    Sie beerdigten Serafin, wo einmal Wüste gewesen war.
    Jetzt tränkte Schmelzwasser die weiten Sandfelder, die Dünen zerflossen zu Schlamm, und die gelbbraunen Felsschluchten wurden zu Flussbetten. Wie lange das so gehen würde? Niemand wusste es. Fest stand, dass die Wüste sich wandeln würde. Wie überhaupt das ganze Land.
    Ägypten würde fruchtbar werden, behauptete Lalapeja. Für jene, die dem Pharao widerstanden und seine Schreckensherrschaft überlebt hatten, war dies die Chance für einen Neuanfang.
    Serafins Grab lag auf einer

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