DIE MEROWINGER: Letzte Säule des Imperiums
den hübschen Burschen hinzu.
»Alle mal herhören!«
Der scharfe Befehl kam von einem baumlangen jungen Kerl, der lässig an einer Zinne lehnte, den rechten Ellbogen oben aufgestützt, die linke Faust an der Hüfte. Es war einer, dem man sofort den Anführer ansah. Blitzende helle Augen, kräftige Nase, breite Kinnbacken, starkes Gebiss. Man erkannte ihn auch gleich als Merowinger: Dichtes, braunes Haar wallte fast bis zum Gürtel herab, so lang, wie es nur Angehörigen der göttlichen Sippe zu tragen erlaubt war. Und dass er auch König war, bezeugte der in der Sonne blinkende, goldene Siegelring, der die Aufschrift »CHLODOVICI REGIS« trug. In allem Übrigen unterschied sich der junge Mann kaum von den anderen: Stirnband, Ledergürtel mit Dolch und Franziska, Kittel und Hose aus Leinen.
Chlodwig, Sohn des Childerich, zwanzig Jahre alt, regierte bereits seit vier Jahren (nach heutiger Zeitrechnung seit dem Jahr 482) das fränkische Kleinreich von Tournai – oder regierte es auch nicht, je nach Betrachtungsweise. Im Augenblick war er jedenfalls nicht geneigt, sich den Nachmittag unter Freunden durch eine unerquickliche Begegnung mit dem stets anstrengenden, fordernden, langweiligen Oberhaupt der Reimser Christengemeinde zu verderben.
Deshalb sprach er die königlichen Worte: »Wir hauen ab, Männer! Heute empfangen wir nicht. Soll Halleluja sich bei meiner Mutter ausheulen. Wir haben noch etwas anderes vor. Nehmt eure Waffen und macht die Pferde bereit!«
Ein Jubelschrei aus dreißig Kehlen antwortete ihm. Das war etwas unvorsichtig, denn es wurde unten auf der Straße gehört, wo die bischöfliche Carruca schon unmittelbar vor dem Festungstor angelangt war. Alle ihre Begleiter sahen zur Höhe des Turms herauf.
Der Bischof selber streckte den Kahlkopf unter der Plane hervor, blickte etwas verdutzt nach oben und winkte – in der Annahme, einen Freudenschrei zu seiner Begrüßung vernommen zu haben.
Indessen war König Chlodwig mit seiner Gefolgschaft schon in voller Absatzbewegung. Hastig zusammengerafft wurden die auf der Plattform verstreuten Kittel, Schuhe, Gürtel, Äxte, Messer und Würfelbecher. Zurück blieben leere oder zerbrochene Bierkrüge und abgenagte Knochen. Alles drängte und trampelte eine Wendeltreppe hinab, die bis an die niedrige Tür und ins Freie führte.
Gleich in der Nähe war eine Wiese, wo die Pferde weideten, kleine, stämmige Tiere aus eigener Zucht. In Windeseile wurden sie aufgezäumt und dann ein kurzes Stück an der Festungsmauer entlanggeführt. Hier tat sich, hinter Buschwerk verborgen und über breite, moosbedeckte Stufen erreichbar, die geheime, schon fast unterirdisch angelegte Pforte auf, die ein Entweichen vor ungebetenen Gästen ermöglichte, nicht nur so harmlosen wie dem Bischof.
Vor wenigen Monaten erst hatte sich Chlodwig mit den Seinen durch diese Pforte in Sicherheit bringen müssen, als seine drei Vettern aus Cambrai nach einem Familienzwist die Festung stürmten.
Hinter der Pforte begann der Wald. Die jungen Männer saßen nicht auf, sondern führten die Pferde am Zaum auf eine sehr schmale Schneise, die erst nach etwa einer Meile, wo der Wald sich etwas lichtete, breiter und ein bequemer Reitweg wurde. Einer nach dem anderen passierte mit seinem Pferd die Geheimtür und verschwand unter dem dichten Laubdach. Chlodwig stand seitlich an der Mauer und achtete darauf, dass keiner seine Waffen vergaß.
Zuletzt erschien Lanthild mit ihrer Stute.
»Was fällt dir ein?«, herrschte er sie an. »Du willst doch nicht etwa mit in die Waldburg?«
»Und was ist dabei?«, begehrte sie auf.
»Dort hast du nichts zu suchen, das weißt du doch. Das ist nichts für Mädchen. Du bleibst hier.«
»Ich langweile mich zum Sterben, wenn alle fort sind!«
»Besonders Ansoald. Habe ich recht?«
»Mit dem hab ich nichts im Sinn!«
»Ist mir schon aufgefallen«, sagte er lachend. »Wem fiele das nicht auf? Und jetzt gehst du zu unserer Mutter und sagst ihr, dass ich drei, vier Tage abwesend bin. Ich mache einen Umritt zwecks Sicherung und Überprüfung der Reichsgrenze.«
»Dazu brauchst du doch höchstens eine Stunde. Dann bist du doch rum um dein Reich!«
»Nun werd mal nicht frech, du Göre, sonst landest du noch in der Spinnkammer!«
»Bitte, Bruder …«
»Sage auch Bobos Vater Bescheid. Er soll Halleluja und seinen Leuten nichts Gebratenes vorsetzen, damit sie schnell wieder verschwinden. Hast du verstanden? Und schiebe den Riegel hinter mir vor!«
König
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