DIE MEROWINGER: Letzte Säule des Imperiums
machtlos, die mähen uns nieder. Ziehen wir ab, bevor es zu spät ist. Rückzug!«
Es gab Zustimmung, doch eher vereinzelt. Vor allem die älteren Gefolgsleute der drei fränkischen Könige hielten es für vernünftig, das unüberlegte, überstürzte Unternehmen abzubrechen.
»Zurück nach Bavai!«, wurde gerufen. »Oder wollt ihr euch lieber abschlachten lassen?«
Jetzt sah man, wie oben auf der Festungsmauer, die sich schwarz und drohend gegen den Nachthimmel abhob, an mehreren Punkten Flammen aufzuckten. Gleich darauf kamen sie näher wie Feuervögel, in weitem Bogen, und stießen herab. Es waren ölgetränkte, brennende Pfeile, von den Skorpionen abgeschossen.
Ein Zelt brannte ab. Seine Insassen konnten sich gerade noch retten. Die meisten Brandpfeile richteten aber keinen Schaden an und landeten irgendwo auf der Wiese. Man sah sie heranschwirren und wich aus.
Später, nach Mitternacht, kamen nur noch vereinzelt Pfeile. Doch das genügte. Die Ruhe, die die Kämpfer benötigten, konnte im Lager nicht einziehen.
Um diese Zeit war endlich die Entscheidung gefallen. Die Versammlung unter freiem Himmel, die noch einmal an das längst vergessene Thing der germanischen Vorfahren erinnerte, hatte sie schließlich mit großer Mehrheit getroffen.
Anfangs sprachen nur die Warner und Mahner, die den sofortigen Abzug befürworteten. Noch in der Nacht wollte Chararich mit seinen zweitausend Männern abrücken, damit der Patricius gar nicht erst Anlass bekam, am Morgen seine Legionen aufmarschieren zu lassen. Dagegen gab es aber gleich heftigen Widerspruch. Wenn man sich jetzt einfach verdrückte, wäre ja alles umsonst gewesen. Wozu hätte man dann in Bavai Beschlüsse gefasst. Wozu hätte man den beschwerlichen Marsch unternommen! Was wäre vom Patricius noch zu erhoffen, wenn man sich von einer Drohung einschüchtern ließe und unrühmlich klein beigab?
Diese Gruppe – vor allem die Cambraier – wollte im Morgengrauen aufmarschieren und mit Geschrei und Waffengetöse so viel Eindruck machen, dass Syagrius ein erneutes Angebot zu Unterhandlungen nicht abschlagen würde. Dann aber dürfte es nicht wieder Chlodwig sein, der das Wort führte!
Als dies ausgesprochen war, fielen harte, böse Schmähworte gegen den Tournaier. Wer hatte ihm den Auftrag erteilt, den Römern eine Schlacht anzubieten? Wie war es ihm in den Sinn gekommen, diese irrwitzigen Forderungen zu stellen – erst das halbe, schließlich sogar das ganze Reich des Syagrius zu verlangen? Unfug sei das, schädlich, lächerlich! So weit zu gehen, hatte bisher kein Franke gewagt – und zu Recht! Wie sollte man, selbst im Fall eines Sieges, so gewaltige Gebiete beherrschen? Überfressen würde man sich, ersticken würde man an dem riesigen Happen. Nur ein unbesonnener junger Kerl konnte sich zu einem solchen Wahnsinn hinreißen lassen!
So redeten einige Cambraier und Tongerer. Die Tournaier schwiegen. Nur wenige, Bobolen unter ihnen, bekundeten mit Mienen und Gesten zaghaft Beifall. Die anderen warteten auf Chlodwigs Erwiderung.
Als der zweite Bruder des Ragnachar, Rignomer, ein noch sehr junger, römisch gebildeter Feingeist, sich schließlich sogar erbot, noch in der Nacht ein höfliches Schreiben abzufassen, in dem der Patricius für die rohe Störung seines Festes um Verzeihung gebeten werden sollte, war es endlich so weit.
Chlodwig, der die ganze Zeit geschwiegen und mit zusammengebissenen Zähnen zugehört hatte, riss plötzlich die Axt aus dem Gürtel, sprang auf Rignomer zu und hob die Waffe, als wollte er zuschlagen. Der zu Tode erschrockene junge Mann fuhr zurück, strauchelte, kam zu Fall. Dabei verlor er den Kodex mit Wachstäfelchen, den er stets bei sich trug, um Notizen zu machen.
Chlodwig gab dem Kodex einen Fußtritt und steckte die Axt zurück in den Gürtel.
»Zur Hel sollst du fahren, Rignomer!«, rief er. »Und nimm die anderen gleich mit … diese Feiglinge! Wollen abrücken! Wollen nicht kämpfen, nur Lärm schlagen! Wollen um Verzeihung bitten! Merovechs Enkel! Sklavenbande! Buchstabenfresser! In römischen Diensten verfettet! Als Föderaten zu Befehlsempfängern heruntergekommen! Helme aus Gold und Schwerter mit Silbergriff – aber Köpfe und Fäuste aus Wachs! Ihr wollt wissen, warum ich euch nicht um Erlaubnis gefragt habe, als ich die Römer für morgen zur Walstatt lud? Weil ich mich nur mit Männern berate! Ihr wollt wissen, wer mir den Auftrag gab? Ich selbst! Nur ich selbst! Weil ich erkannt habe, dass die große
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