Die Messerknigin
Rauchkringel. Sie sind Botschaften aus dem Spiegelland, Bilder in den dahintreibenden Wolken: Rauch und Spiegel, nichts weiter. Aber es hat mir Freude gemacht, sie zu schreiben, und sie ihrerseits, denke ich mir, schätzen es, gelesen zu werden.
Willkommen.
Neil Gaiman, Dezember 1997
Ohne Furcht und Tadel
Mrs. Whitaker fand den Heiligen Gral unter einem Pelzmantel.
Jeden Donnerstagnachmittag machte Mrs. Whitaker einen Spaziergang zum Postamt, um ihre Rente abzuholen, auch wenn ihre Beine ihr nicht mehr so gute Dienste leisteten wie früher einmal, und auf dem Rückweg machte sie immer am Oxfam-Laden halt und gönnte sich irgendeine Kleinigkeit.
Im Oxfam-Laden gab es gebrauchte Kleidung, Krimskrams, Kuriositäten, jede Menge Gerümpel und Berge alter Taschenbücher; allesamt Spenden. Treibgut aus zweiter Hand, oft aus Haushaltsauflösungen der Verstorbenen. Und die Erlöse gingen an einen guten Zweck.
Der Laden wurde von ehrenamtlichen Mitarbeitern betrieben. Die Freiwillige, die an diesem Nachmittag Dienst tat, war Marie, siebzehn, ein bisschen übergewichtig und angetan mit einem weiten, mauvefarbenen Pulli, der aussah, als habe sie ihn hier im Laden gefunden.
Marie saß mit einer Ausgabe von Modern Woman an der Kasse und füllte den »Erkennen Sie Ihre verborgene Persönlichkeit«-Fragebogen aus. Hin und wieder blätterte sie nach hinten, um die jeweilige Punktzahl für die Antworten A), B) oder C) in Erfahrung zu bringen, ehe sie entschied, wie sie die Frage beantwortete.
Mrs. Whitaker stöberte im Laden herum.
Die ausgestopfte Kobra hatten sie immer noch nicht verkauft, stellte sie fest. Seit sechs Monaten stand sie jetzt hier und ihre boshaften Glasaugen starrten unverwandt auf die Kleiderständer und das Regal voll angeschlagener Porzellanfigürchen und zerkauter Spielzeuge.
Mrs. Whitaker tätschelte ihr im Vorbeigehen den Kopf.
Sie wählte zwei Mills-&-Boon-Romane aus dem Bücherregal – Ihre donnernde Seele und Ihr stürmisches Herz – und zog eine Mateus-Rosé-Flasche mit einem dekorativen Lampenschirm in die engere Wahl, ehe sie zu dem Schluss kam, dass sie wirklich nirgendwo mehr Platz hatte, um sie aufzustellen.
Sie räumte einen ziemlich fadenscheinigen Mantel beiseite, der ein unangenehmes Mottenkugelaroma verströmte. Darunter waren ein Spazierstock und ein fleckiges Exemplar von A.R. Hope Moncrieffs Romance and Legend of Chivalry zum Preis von fünf Pence. Neben dem Buch lag der Heilige Gral auf der Seite. Auf dem Fuß klebte ein kleines, rundes Etikett, auf dem mit Filzschreiber der Preis vermerkt war: 30 Pence.
Mrs. Whitaker nahm den verstaubten Silberpokal in die Hand und begutachtete ihn durch ihre dicken Brillengläser.
»Der ist aber hübsch«, rief sie zu Marie hinüber.
Marie zuckte mit den Schultern.
»Er würde sicher sehr hübsch auf dem Kaminsims aussehen.«
Marie zuckte nochmals mit den Schultern.
Mrs. Whitaker zahlte Marie fünfzig Pence, die ihr zehn Pence Wechselgeld und eine braune Papiertüte gab, um die Bücher und den Heiligen Gral einzupacken. Dann ging Mrs. Whitaker eine Tür weiter zum Metzger und kaufte sich ein schönes Stückchen Leber. Dann ging sie heim.
Die Innenseite des Pokals war mit einer dicken, bräunlich roten Staubschicht verkrustet. Mrs. Whitaker wusch ihn mit größter Sorgfalt aus und ließ ihn dann eine Stunde in warmem Wasser mit einem Spritzer Essig einweichen.
Schließlich behandelte sie ihn mit Metallpolitur, bis er glänzte, und stellte ihn im Wohnzimmer aufs Kaminsims zwischen den Porzellanbasset mit dem seelenvollen Blick und einem Foto ihres seligen Henry, 1953 am Strand in Frinton.
Sie hatte Recht gehabt: Es sah wirklich hübsch aus.
Fürs Abendessen panierte sie die Leber und briet sie mit Zwiebelringen. Es schmeckte wunderbar.
Der nächste Morgen war ein Freitag und an jedem zweiten Freitag besuchten Mrs. Whitaker und Mrs. Greenberg einander. Heute war Mrs. Greenbergs Besuch bei Mrs. Whitaker an der Reihe. Sie setzten sich ins Wohnzimmer, aßen Makronen und tranken Tee. Mrs. Whitaker nahm ein Stück Zucker in den Tee, Mrs. Greenberg bevorzugte Süßstoff, den sie immer in einer kleinen Plastikdose in der Handtasche hatte.
»Wie hübsch«, bemerkte Mrs. Greenberg und zeigte auf den Gral. »Was ist das?«
»Der Heilige Gral«, erklärte Mrs. Whitaker. »Es ist der Becher, aus dem Jesus beim letzten Abendmahl getrunken hat. Und später bei der Kreuzigung wurde sein Blut damit aufgefangen, als der römische Soldat ihm die
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