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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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als Nächstes?«
    »Na ja, sobald alle Gelegenheit hatten, einen Blick draufzuwerfen, setzen wir uns zusammen und reden darüber.«
    Er klopfte mir auf die Schulter und ging und ich war ohne Beschäftigung allein in Hollywood.
    Ich beschloss, eine Shortstory zu schreiben. Schon bevor ich England verlassen hatte, war mir diese Idee gekommen. Etwas mit einem kleinen Theater am Ende eines Piers. Eine Zaubervorführung, während es draußen schüttet. Ein Publikum, das nicht zwischen Magie und Illusion unterscheiden kann, dem es völlig gleich wäre, wenn jede Illusion real wäre.

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    Beim Spaziergang an diesem Nachmittag kaufte ich im »fast rund um die Uhr«-Buchladen ein paar Bücher über Zauberkunst und viktorianische Zauberkünstler. Eine Geschichte oder jedenfalls das Samenkorn einer Geschichte war in meinem Kopf und ich wollte die Materie erforschen. Ich setzte mich auf die Bank im Innenhof und blätterte die Bücher durch. Es war eine ganz bestimmte Atmosphäre, die ich einfangen wollte, ging mir auf.
    Ich las gerade über die Pockets Men, die alle nur denkbaren kleinen Gegenstände in ihren Taschen hatten und hervorzauberten, was immer man nannte. Keine Illusion, nur eine Meisterleistung in Organisation und Merkfähigkeit. Ein Schatten fiel auf die Seite. Ich sah auf.
    »Hallo«, sagte ich zu dem alten schwarzen Mann.
    »Sir.«
    »Bitte nennen Sie mich nicht so. Es gibt mir das Gefühl, als müsste ich einen Anzug tragen oder so was.« Ich sagte ihm meinen Namen.
    Er nannte mir seinen: »Pious Dundas.«
    »Pious?« Ich war nicht sicher, ob ich mich nicht verhört hatte. »Der Fromme?«
    Er nickte stolz. »Manchmal bin ich das, manchmal nicht. Meine Mama hat mich so genannt und es ist ein guter Name.«
    »Ja.«
    »Und? Was tun Sie hier, Sir?«
    »Ich bin nicht ganz sicher. Ich soll ein Drehbuch schreiben, glaub ich. Oder zumindest warte ich darauf, dass sie mir sagen, ich soll anfangen, das Drehbuch zu schreiben.«
    Er kratzte sich an der Nase. »All die Filmleute haben hier gewohnt. Wenn ich anfangen wollte, Ihnen von allen zu erzählen, könnte ich bis nächsten Mittwoch reden und wäre noch nicht mal zur Hälfte fertig.«
    »Wen mochten Sie am liebsten?«
    »Harry Langdon. Er war ein Gentleman. George Sanders. Er war Engländer, wie Sie. Er sagte immer; ›Ach, Pious, Sie müssen für meine Seele beten.‹ Und ich sagte darauf: ›Ihre Seele ist Ihre Angelegenheit, Mister Sanders.‹ Aber ich hab trotzdem für ihn gebetet. Und June Lincoln.«
    »June Lincoln?«
    Seine Augen funkelten und er lächelte. »Sie war die Königin der Silberleinwand. Sie war feiner als all die anderen: Mary Pickford oder Lilian Gish oder Theda Bara oder Louise Brooks … Sie war die Beste. Sie hatte ›es‹. Wissen Sie, was ›es‹ ist?«
    »Sexappeal.«
    »Mehr als das. Sie war alles, wovon Sie je geträumt haben. Wenn man einen June-Lincoln-Film sah, wollte man …« Er brach ab und zog kleine Kreise mit der Hand, als versuche er, die fehlenden Worte einzufangen. »Ich weiß nicht. Auf die Knie fallen vielleicht, wie ein Ritter vor seiner Königin. June Lincoln war die Beste von allen. Ich hab meinem Enkel von ihr erzählt und versucht, einen ihrer Filme auf Video zu kriegen, aber nichts zu machen. Gibt es nicht mehr. Sie lebt nur noch in den Köpfen alter Männer.« Er tippte sich an die Stirn.
    »Sie muss sehr außergewöhnlich gewesen sein.«
    Er nickte.
    »Was wurde aus ihr?«
    »Sie hat sich erhängt. Manche Leute sagten, sie hätte es getan, weil sie im Tonfilm keine Chance gehabt hätte, aber das stimmt nicht. Sie hatte eine Stimme, die man niemals vergaß, wenn man sie mal gehört hatte. Cremig und dunkel war diese Stimme, wie Irishcoffee. Manche haben behauptet, ein Mann hätte ihr das Herz gebrochen oder eine Frau. Oder dass sie gespielt oder gesoffen oder sich mit Gangstern eingelassen habe. Wer weiß? Es waren wilde Zeiten.«
    »Sie haben sie also sprechen gehört?«
    Er grinste. »Sie hat gesagt: ›Kannst du rausfinden, was aus meiner Stola geworden ist, Junge?‹ Und als ich sie ihr gebracht hab, da hat sie gesagt: ›Du bist ein hübscher Knabe.‹ Und der Mann, der bei ihr war, hat gesagt: ›June, lass den Gärtner zufrieden.‹ Und sie hat mich angelächelt und mir fünf Dollar gegeben und gesagt: ›Aber er nimmt’s mir doch nicht übel, oder, Junge?‹ Und ich hab nur den Kopf geschüttelt. Dann machte sie diese Sache mit den Lippen, wissen Sie.«
    »Einen Schmollmund?«
    »Irgendwas in der Art. Ich

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