Die Messerknigin
Bank.
Nach zehn Minuten Fußmarsch erreichten wir einen Konferenzraum. Zusammen mit Jacob und all den anderen Leuten vom Frühstück wartete ich dort auf irgendjemanden. In der allgemeinen Hektik hatte ich nicht genau mitbekommen, wer dieser Jemand war und was er oder sie tat. Ich holte mein Buch hervor und legte es vor mir auf den Tisch, eine Art Talisman.
Jemand trat ein. Er war groß, hatte eine spitze Nase und ein spitzes Kinn und zu lange Haare – er sah aus, als habe er einen viel jüngeren Mann gekidnapped und dessen Schopf gestohlen. Er war Australier und das überraschte mich.
Er nahm Platz.
Er sah mich an.
»Schießen Sie los«, sagte er.
Ich sah zu den Leuten vom Frühstück, aber keiner erwiderte meinen Blick, niemand sah so ganz in meine Richtung. Also fing ich an zu reden: über das Buch, über den Plot, über das Ende, den Showdown in einem Nachtclub in L.A., wo die gute Manson-Tochter die anderen in die Luft jagt. Oder jedenfalls glaubt sie das. Über meine Idee, einen Schauspieler für die Rollen aller Manson-Söhne zu nehmen.
»Glauben Sie diese Dinge?« Es war die erste Frage von diesem Jemand.
Das war einfach. Diese Frage hatte ich schon mindestens zwei Dutzend englischen Journalisten beantwortet.
»Ob ich glaube, dass Charles Manson eine Zeit lang von einer übernatürlichen Kraft gelenkt wurde, die heute in seinen vielen Kindern wirkt? Nein. Ob ich glaube, dass irgendetwas Seltsames vorging? Ich denke, ja. Vielleicht war es einfach so, dass sein Wahnsinn sich für eine kurze Zeit mit dem Wahnsinn der restlichen Welt deckte. Ich weiß es nicht.«
»Hm. Diese Manson-Söhne. Könnten wir Keanu Reeves nehmen?«
Um Himmels willen, nein , dachte ich. Jacob sah mich an und nickte verzweifelt. »Ich wüsste nicht, was dagegen spricht«, sagte ich. Es war sowieso alles nur Fantasie. Nichts davon war real.
»Wir machen gerade einen Deal mit seinen Leuten«, sagte der Jemand und nickte versonnen.
Sie schickten mich weg und sagten, ich solle ein Treatment schreiben und ihnen zur Genehmigung vorlegen. Das hieß wohl, dem australischen Jemand, nahm ich an, auch wenn ich nicht ganz sicher war.
Ehe ich ging, gab mir jemand siebenhundert Dollar und ließ mich eine Quittung unterschreiben: zwei Wochen per diem .
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Zwei Tage schrieb ich an diesem Treatment. Ich gab mir alle Mühe, den Roman zu vergessen, die Geschichte als Film zu strukturieren. Es ging mir gut von der Hand. Ich saß in dem kleinen Hotelzimmer und tippte auf dem Notebook-Computer, den das Studio mir geschickt hatte, und druckte auf dem Bubble-Jet-Drucker aus, den sie ebenfalls geschickt hatten. Ich aß in meinem Zimmer.
Jeden Nachmittag machte ich einen kleinen Spaziergang über den Sunset Boulevard. Ich ging immer bis zum »fast rund um die Uhr«-Buchladen, wo ich eine Zeitung erstand. Dann setzte ich mich eine halbe Stunde in den kleinen Innenhof des Hotels und las meine Zeitung. Nach dieser Tagesdosis Licht und Sonne verkroch ich mich wieder in meinem abgedunkelten Zimmer und verwandelte meinen Roman in etwas anderes.
Ein sehr alter schwarzer Mann, ein Hotelangestellter, erschien jeden Tag, schlurfte mit beinah schmerzlicher Langsamkeit durch den Innenhof, tränkte die Pflanzen und sah nach den Fischen. Er grinste mir im Vorbeigehen zu und ich nickte.
Am dritten Tag stand ich auf und ging zu ihm hinüber, als er am Fischteich stand und mit den Fingern Unrat herausholte: ein paar Münzen und eine Zigarettenschachtel.
»Hallo«, sagte ich.
»Sir«, grüßte der alte Mann.
Ich erwog, ihn zu bitten, mich nicht »Sir« zu nennen, aber mir fiel nicht ein, wie ich es formulieren könnte, ohne ihn zu kränken. »Hübsche Fische.«
Er nickte grinsend. »Zierkarpfen. Kommen aus China.«
Wir sahen ihnen eine Weile zu, während sie ihre Runden schwammen.
»Ich frag mich, ob ihnen nie langweilig wird.«
Er schüttelte den Kopf. »Mein Enkel, er ist Ichthyologe, wissen Sie, was das ist?«
»Fischkunde.«
»Hm. Er sagt, ihr Gedächtnis reicht nur dreißig Sekunden. Sie schwimmen also im Teich rum und werden ständig überrascht. Denken immerzu: ›Hier war ich noch nie.‹ Sie treffen einen anderen Fisch, den sie seit hundert Jahren kennen, und fragen: ›Wer bist du denn, Fremder?‹.«
»Würden Sie Ihren Enkel etwas fragen?« Er nickte. »Ich hab gelesen, dass Karpfen keine natürliche Lebensspanne haben. Sie altern nicht so wie wir. Sie sterben durch Krankheiten oder werden von Mensch oder Raubtier erbeutet, aber sie
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