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Die Messerknigin

Titel: Die Messerknigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neil Gaiman
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früh im März.
    Der Grund der Einsamkeit liegt tief wie Erz
    Die Finsternis der Seele ist ein Tal
    Von Furcht, Magie, Erinnerung und Schmerz
    Der Zauberer macht einen müden Scherz
    Und dünn wie Lügen ist dein Seidenschal
    Ich denk an England, Regen früh im März …
    Es strebt doch keine Seele himmelwärts:
    Hier sind ein Schwert, ein Pfand und hier ein Gral
    Der Furcht, Magie, Erinnerung und Schmerz
    Die Hand des Magiers ist bleich und fahl
    die Wahrheit, die er kündet, fad und schal
    Ich denk an England, Regen früh im März
    an Furcht, Magie, Erinnerung und Schmerz.
    Ich wusste nicht, ob es etwas taugte oder nicht, aber das machte nichts. Ich hatte etwas Neues, Frisches geschrieben und es fühlte sich herrlich an.
    Ich bestellte ein Frühstück aufs Zimmer und bat um einen Heizlüfter und ein paar Decken.

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    Am nächsten Tag schrieb ich ein sechsseitiges Treatment für einen Film mit dem Titel When We Were Badd , in dem Jack Badd, ein Serienmörder, der eine riesige kreuzförmige Narbe auf der Stirn trug, auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde, in Gestalt eines Videospiels zurückkehrte und von vier jungen Männern Besitz ergriff. Der fünfte junge Mann besiegte Badd, indem er den elektrischen Stuhl verbrannte, auf dem der Killer gestorben war. Der Stuhl, beschloss ich, war inzwischen ein Ausstellungsstück in dem Wachsfigurenmuseum, wo die Freundin des fünften jungen Mannes tagsüber arbeitete. Abends war sie Tänzerin in einem Nachtclub.
    Die Rezeption faxte es ans Studio und ich ging zu Bett. Ich schlief mit der Hoffnung ein, dass das Studio es formell ablehnen würde und ich nach Hause fliegen könnte.

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    Im Theater meiner Träume trug ein Mann mit Bart und Baseballkappe eine Kinoleinwand auf die Bühne und verschwand wieder. Die Silberleinwand schwebte schwerelos im Raum.
    Ein flackernder Stummfilm fing an zu laufen, eine Frau verließ die Leinwand und starrte auf mich hinab. Es war June Lincoln, die in dem Flackerfilm zu sehen war, und es war ebenso June Lincoln, die aus dem Film heraustrat und sich auf meine Bettkante setzte.
    »Willst du mir jetzt sagen, dass ich nicht aufgeben darf?«, fragte ich sie.
    Auf einer Ebene meines Bewusstseins wusste ich, dass es ein Traum war. Ich erinnere mich vage, dass ich erkannte, warum diese Frau ein Star war, und ich bedauerte, dass keiner ihrer Filme mehr existierte.
    Sie war wahrhaftig schön in meinem Traum, trotz des feuerroten Henkersmals um ihren Hals.
    »Warum in aller Welt sollte ich das tun?«, fragte sie. In meinem Traum roch sie nach Gin und altem Zelluloid, obwohl ich mich nicht entsinne, wann ich je zuvor einen Geruch geträumt hätte. Sie lächelte ein perfektes Schwarzweißlächeln: »Ich bin rausgekommen, oder nicht?«
    Dann stand sie auf und ging im Zimmer umher.
    »Ich kann nicht fassen, dass dieses Hotel immer noch steht.« Ihre Stimme war voller Knister- und Zischlaute. Sie kam zum Bett zurück und sah mich unverwandt an, wie eine Katze das Mauseloch anstarrt.
    »Betest du mich an?«, fragte sie.
    Ich schüttelte den Kopf. Sie kam noch näher und nahm meine Hand aus Fleisch und Blut in ihre silbrige.
    »Niemand erinnert sich mehr an irgendetwas«, sagte sie. »Es ist eine Dreißig-Minuten-Stadt.«
    Es gab etwas, das ich sie unbedingt fragen musste: »Wo sind die Sterne? Ich sehe immerzu zum Himmel auf, aber sie sind nicht da.«
    Sie wies auf den Fußboden meines Chalets. »Du hast in die falsche Richtung geschaut«, sagte sie. Bislang war mir nie aufgefallen, dass der Boden des Chalets ein Bürgersteig war, und jeder Pflasterstein enthielt einen Stern mit einem Namen – Namen, die ich nicht kannte: Clara Kimball Young, Linda Arvidson, Vivian Martin, Norma Talmadge, Olive Thomas, Mary Miles Minter, Seena Owen …
    June Lincoln wies zum Fenster. »Und da draußen.«
    Das Fenster stand offen und ich konnte ganz Hollywood sehen, das sich dort unten erstreckte – ein Blick von den Höhen der Hügel herab: ein unendlicher Teppich flackernder, vielfarbiger Lichter.
    »Ist das nicht viel besser als die Sterne?«, fragte sie.
    Und das war es tatsächlich. Ich stellte fest, dass ich Konstellationen in den Straßenlaternen und Autoscheinwerfern erkennen konnte.
    Ich nickte.
    Ihre Lippen berührten meine.
    »Vergiss mich nicht«, flüsterte sie, aber ihre Stimme war voller Trauer, so als wisse sie, dass ich es doch tun würde.
    Ich erwachte vom Schrillen des Telefons. Ich nahm ab und brummelte in den Hörer.
    »Hier ist Gerry Quoint

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