Die Messerknigin
hat.
IX.
Jackie arbeitet im Blossoms , einem Nachtclub in West Hollywood. Es gibt dutzende, wenn nicht hunderte Jackies in Los Angeles, tausende in Amerika, hunderttausende auf der ganzen Welt.
Einige von ihnen arbeiten für die Regierung, andere für religiöse Organisationen, wieder andere in der Wirtschaft. In New York, London und Los Angeles hat jede In-Kneipe oder Disco einen Türsteher wie Jackie.
Und das ist es, was Jackie tut: Jackie sieht die Menschenströme durch die Tür kommen und denkt: M geboren, jetzt W. W geboren, jetzt M. M geboren, jetzt M. M geboren, jetzt W. W geboren, jetzt W …
In »natürlichen Nächten« (manche nennen sie auch vulgär ungewandelt ) sagte Jackie häufig: »Sorry, aber Sie können nicht rein.« Leute wie Jackie haben eine 97%ige Trefferquote. In einem Artikel im Scientific American wurde die Theorie aufgestellt, die Fähigkeit, das Geburtsgeschlecht eines Menschen zu erkennen, sei genetisch bedingt und erblich – eine Fähigkeit, die immer existiert habe, bis jetzt aber keinen Überlebenswert hatte.
Jackie wird in den frühen Morgenstunden nach der Arbeit in einer dunklen Ecke des Parkplatzes hinter dem Blossoms überfallen. Und bei jedem Stiefel, der Jackies Gesicht, Brust, Kopf oder Unterleib trifft, denkt Jackie: M geboren, jetzt W, W geboren, jetzt W, W geboren, jetzt M, M geboren, jetzt M …
Als Jackie aus dem Krankenhaus entlassen wird – auf einem Auge blind, Brust und Gesicht ein einziger grünpurpurner Bluterguss, warten zu Hause ein gewaltiger Strauß exotischer Blumen und die Nachricht, dass Jackie immer noch einen Job hat.
Doch Jackie nimmt den Hochgeschwindigkeitszug nach Chicago, von da aus einen Bummelzug nach Kansas City und bleibt dort, arbeitet als Anstreicher und Elektriker, Berufe, die Jackie vor langer Zeit erlernt hat, und geht nicht zurück.
X.
Rajit ist jetzt über siebzig. Er lebt in Rio de Janeiro. Er ist reich genug, um sich jeden Wunsch zu erfüllen, jeder Laune nachzugeben, aber er will mit niemandem mehr Sex. Misstrauisch beäugt er sie alle vom Fenster seines Apartments, starrt auf die gebräunten Leiber an der Copacabana hinab und rätselt.
Die Menschen am Strand denken ebenso wenig an ihn, wie ein Jugendlicher mit einem Tripper sich bei Alexander Fleming bedanken würde. Die meisten glauben, Rajit müsse längst tot sein. Und ihnen allen ist es so oder so egal.
Es wird behauptet, manche Krebsarten hätten sich weiterentwickelt oder seien mutiert, um das Rebooting zu überleben. Viele bakterielle Erkrankungen und Viren sind immun gegen das Rebooting. Manche scheinen im Verlauf des Prozesses gar besonders zu gedeihen und eine Hypothese besagt, dass eine – eine Unterart der Gonorrhö – Rebooting für ihr Verbreitung nutzt: sie bleibt im Körper des Wirtes ruhend und wird erst ansteckend, wenn die Genitalien sich zu denen des anderen Geschlechts reorganisiert haben.
Wie dem auch sein mag, die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen der westlichen Welt erhöht sich.
Warum einige Freebooter (Menschen, die das Rebooting zur Geschlechtsumwandlung anwenden) normal zu altern scheinen, während andere keinerlei Alterserscheinungen zeigen, ist der Wissenschaft ein Rätsel. Manche glauben, dass Letztere einfach auf zellularer Ebene altern. Andere vertreten den Standpunkt, dass es für Schlussfolgerungen noch viel zu früh sei und niemand irgendetwas Genaues wisse.
Das Rebooting kann den Alterungsprozess nicht umkehren, doch die Sachlage legt den Schluss nahe, dass es ihn für einige Menschen zumindest anhält. Viele Angehörige der älteren Generation, die den Versuchungen des Freebootings bislang widerstanden haben, unterziehen sich der Behandlung nun regelmäßig, ganz gleich ob es medizinisch indiziert ist oder nicht.
XI.
Die Anlageform der Wandelschuldverschreibung verschwindet nach und nach von den internationalen Finanzmärkten. Der Prozess des Veränderns, der Umbildung wird jetzt allgemein als Modifizieren bezeichnet.
XII.
In seinem Apartment in Rio siecht Rajit dahin. Er ist Anfang neunzig und leidet an Prostatakrebs. Er hat niemals Reboot genommen und jetzt ängstigt die Vorstellung ihn. Der Krebs hat sich bis zu den Beckenknochen und den Hoden ausgebreitet.
Er läutet. Er muss einen Augenblick warten, bis der Pfleger seine Daily Soap ausgeschaltet und die Kaffeetasse abgestellt hat. Schließlich kommt der Pfleger herein.
»Bringen Sie mich nach draußen an die frische Luft«, verlangt Rajit, seine
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