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Die Mestizin

Die Mestizin

Titel: Die Mestizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: César Aira
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sie durch die Chañaritos zogen, fühlten sie sich wie Riesen über einem Miniaturwald, der einem echten in allen Einzelheiten glich; alpataco, so wurde eine Art Bonsai-Bäumchen genannt, das einen Fuß hoch war.
    Jeden Tag genossen sie das Schauspiel des Regenbogens, sobald es der Sonne gelang, einen Strahl durch die Wolken zu schicken. Sie wussten nie, wo er auftauchen würde, manchmal war er so nah, dass die langsamen Karren fast unmittelbar unter ihm hindurchzufahren schienen; manchmal wieder so fern, zart und zerbrechlich wie Kristall.
    Die in Schlamm verwandelte Erde machte ein schmatzendes Geräusch unter den Hufen der Tiere. Insekten in Hülle und Fülle schlüpften aus dem feuchten Boden: große Moskitos, die wie Heuschrecken hüpften, Spinnen, die kuppelförmige Netze spannen, hübsche Wanzen in der Größe und Form eines Geldstücks, mit wechselnden Mustern (Duval legte sich eine Sammlung an, nicht vom Drang des Naturforschers beseelt, sondern von dem schlichten kindlichen Vergnügen, seine Sammlerstücke auf einer Decke auszubreiten, wenn sie Halt machten, und sie in Reihen anzuordnen), und vor allem groteske Libellen mit Glotzaugen, die sich mit sanftem Druck herauslösen ließen und auf der Handfläche liegen blieben wie zwei rote Kügelchen. Sie sahen auch ein seltsames Insekt, eine Art Gottesanbeterin, die von den Gauchos tatadios genannt wurde, groß war wie eine Taube und so viele Gelenke hatte, dass man sie nie in ihrer endgültigen Form zu sehen bekam, denn dauernd klappte sie noch ein paar Gelenke mehr auseinander.
    Aber niemand kam an Zahl und Wirkung den Kröten gleich, die aus dem Nichts gekommen waren, klein wie Rebhuhneier, dann wieder ein riesiges, unverhältnismäßig großes Exemplar, denn es gab kein Mittelmaß. Sie sprangen mit ihren kleinen Hüpfern, die ihnen so vertraut wurden, vor den Pferdehufen weg, sie waren schön, von einem Grün, das vom Bläulichen ins Gelbe spielte, mit kunstvollen glänzenden Schuppen am Rücken, stets damit beschäftigt, mit unersättlicher Gefräßigkeit Insekten zu vertilgen. Diese Fresserei faszinierte Duval nicht weniger als die Menge. Gelegentlich berechnete er zu seinem Vergnügen die Anzahl der Kröten, die sich hier auf den Millionen von Meilen unberührten Landes tummeln mussten; er multiplizierte die Zahl derer, die einen Quadratmeter bevölkerten (an die hundert) mit zehntausend, und diese Zahl mit hundert, und das Ergebnis mit tausend, und das Ergebnis mit hundert Millionen, und selbst dann war ihm klar, dass er sich nicht einmal im Entferntesten der Gesamtzahl angenähert hatte; er machte sich einen Spaß daraus, die Summe mit der Anzahl an Minuten oder Sekunden zu vergleichen, die ein Jahr oder ein menschliches Leben haben, ließ seiner Phantasie freien Lauf bei den überwältigenden Multiplikationen der Fortpflanzung, der Nutzlosigkeit dieser Geschöpfe. Und wenn sie durch dieses Meer von kleinen grünen Schmuckstücken wateten, die davonsprangen oder, von der Sonne hypnotisiert, zu Salzsäulen erstarrten, spürte er eine seltsame Erregung in der Brust.
    «Die Spezies ist alles», dachte er, «das Individuum zählt nicht; der Mensch verschwindet in der Welt…»
    Was andere beunruhigt hätte, bereitete ihm unerklärliche Freude: Es war ein Vorgeschmack auf Genüsse, an die er bislang nicht einmal im Traum gedacht hatte, und bei jedem Schritt, den sie weiter in den wilden und geheimnisvollen Westen vordrangen, kam es ihm so vor, als gelange er in das heilige Reich der Straffreiheit, das heißt der menschlichen Freiheit, etwas, das man ihm im alten Europa nicht beigebracht hatte und das er im amerikanischen Urwald lernen sollte, um den Preis seiner Auflösung.
    Die Stummheit der Tiere, die sich mit allem Übrigen im Einklang befand, war wie ein weiteres Element derselben Idee; auch die Menschen sprachen nicht, die Eintönigkeit der Reise hatte den kaum vorhandenen Mitteilungsdrang, den sie zu Beginn an den Tag gelegt hatten, zunichte gemacht; es vergingen ganze Tage, ohne dass sie das Wort aneinander richteten, ohne dass unter den Hunderten von Soldaten und Sträflingen auch nur eine Silbe fiel.
    «Alles ist Denken», sagte sich Duval. «Es gibt keine Sprache.»
    Er ließ sich ganz von diesem unmenschlichen Gleichmut durchdringen, und dann verscheuchte er ihn mit einer Idee. «Alles ist möglich. Wenn es keine Sprache gibt, ist alles möglich. Alles ist mir erlaubt.»
    Im Laufe der langen Stunden, in denen es regnete und still war, trat durch

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