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Die Mestizin

Die Mestizin

Titel: Die Mestizin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: César Aira
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gewöhnlich. Wie denn der Pillahuinco sei, der berühmte Bach von Pringles? Etwa wie der, den sie hinter sich gelassen hatten? Der Franzose hatte ihn idyllisch gefunden.
    Der Argentinier pfiff ein wenig.
    «Ein Paradies. Dieses Bächlein hier ist nichts, bloß ein Augenblick. Der andere ist groß wie ein Leben, ein großer, gigantischer und ewiger Garten Eden. Ein gefährlicher Ort: Der Wald erstreckt sich über Tausende von Meilen, keiner weiß, bis wohin genau, es wimmelt dort nur so von Wilden, von umherziehenden Stämmen aller Art, die den Tod bringen, denn sie kennen sich mit Gift aus. Wenn das Fort selbst sich am äußersten Waldrand wie durch ein Wunder halten kann, was gilt dann das Leben eines Menschen?»
    Sie ritten in Gedanken versunken weiter. Der Franzose fragte sich: «Was ist Gefahr?»
    Am nächsten Morgen hatten sie die Baumgruppe aus dem Blick verloren und zogen wieder durch ödes Grasland. Sie zählten in eifriger Vorfreude die Tage und Stunden. Selbst in die Gefangenen schien wieder Leben gekommen zu sein. Die letzten Tage waren sonnig, fast schon Sommertage. Wenn die Luft klar war, konnten sie in der Ferne Vogelschwärme sehen, die zum Wald herabflogen. Die große Apathie der Reise löste sich auf wie eine Farbe, die man aus ganz großer Nähe betrachtet. Der Franzose dachte an die Gefahr und an die Grenze, die er sich als ein grenzenloses Territorium ersehnte, als eine Wegstrecke, die alle möglichen Unterbrechungen erlaubte, die jederzeit seinen Eintritt gestatten würde, als ein neuer und glücklicher Mensch – er müsste wieder lernen, sich zu bewegen, wie ein Tänzer, in einem harten Training, um keinen einzigen Augenblick in diesem geheimnisvollen Netz innezuhalten. Gelegentlich stellte er sich, in der Ebbe und Flut der Gedanken, die er in sich aufsteigen ließ, den Wald als einen Schleier vor, durch den man undeutlich andere Szenen erahnen konnte, auch die Bilder der Politik. Die unmoralische Politik übersäte die Landschaft mit lebenden Statuen. Diese eigentümliche Kombination aus Natur und Machiavellismus berauschte ihn.
    Am vorletzten Reisetag flogen, mit erdrückender, barocker Neutralität, dichte Schwärme von Flamingos über ihre Köpfe hinweg, und von der Erde stiegen Wolken kleiner grauer Vögel auf, so dass sie den Weg nicht mehr erkennen konnten. Die Gefangenen beobachteten erwartungsvoll den Horizont. Lavalle trank und war schlechter Laune. Duval zog sich in seine Privatsphäre zurück.
    Seine Arbeit als Ingenieur und der Frühling, der die Welt verwandelte, waren ein und dasselbe. Namenlose Dringlichkeiten ließen ihn schaudern, eine wachsende Ungeduld jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Was sollte er hier am Ende der Welt tun? Bisher wusste das nur Espina. Aber er hegte die Hoffnung, dass es eine totale Aufgabe war, die sein ganzes Leben umfassen würde. In seinem gegenwärtigen Gemütszustand konnte ihm nur etwas derart Exaltiertes Befriedigung verschaffen.
    Sie wurde von der Stille nach einem Zwitschern geweckt, das im ängstlichen Schnabel eines nahen Vogels erstarb. Es musste spät sein, aus den Längsstreifen hellen Lichts zu schließen, das zwischen den Papierblenden hindurchdrang. Doch der Junge schlief tief und fest in seinem Körbchen, so dass Erna wieder die Augen schloss und unter die Decke schlüpfte, ohne ihren Mann zu wecken. Mit einer schnellen Bewegung ergriff sie den Saum und schüttelte die Decke: Sie bildete eine weiche Kuppel, die langsam und kühl herabsank und sich wie eine zweite Haut an die Körper schmiegte. Er schlief mit offenem Mund, sein Atem ging schwer, und Erna spürte, wie die Wärme von ihm abstrahlte. Sie schlief ein, bis ein Wimmern des Kleinen sie wieder weckte, und diesmal ging sie nach ihm schauen: Er wand sich in dem Körbchen, ohne die Augen zu öffnen; sie beruhigte ihn, indem sie ihm mit der Hand über die Stirn fuhr und dabei ein paar Worte murmelte. Anschließend erhob sie sich und sah sich um.
    Sie schlug die beiden Papierbögen zurück, die als Tür dienten und an einem Rohrstab hingen, und ging auf die Veranda der Hütte. Es war früher am Morgen, als sie gedacht hatte: Die Sonne würde erst in einer Stunde aufgehen; dann würde sich die Frische auflösen, die jetzt noch in der Luft lag und die sie erschaudernd durch den dünnen Stoff des Nachthemdes empfing. Sie spürte, wie sich das Ungeborene in ihrem Bauch regte. Um diese Stunde wachte es auf. Sie sollte in vier Monaten niederkommen, gegen Ende des Winters, der

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