Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
Vom Netzwerk:
kampiert hatten, zogen sie in immer kleineren Gruppen ab, und nach einer Woche waren wir wieder allein. Vincent schien endgültig in eine andere Realität eingetaucht zu sein, und wir hatten keinerlei Kontakt mehr; nur als wir uns einmal auf dem steilen Felsweg begegneten, der zu unseren früheren Zellen führte, fragte er mich, ob ich mir ansehen wolle, wie weit die Pläne für die Botschaft inzwischen gediehen waren. Ich folgte ihm in einen unterirdischen Saal mit weißen Wänden, der vollgestopft war mit Lautsprechern und Videoprojektoren, dann wählte er die Funktion »Präsentation« in dem Programm. Es war keine Botschaft, und es waren nicht einmal richtige Pläne. Ich hatte den Eindruck, riesige Vorhänge aus Licht zu durchqueren, die rings um mich herum entstanden, Form annahmen und wieder verschwanden. Manchmal stand ich inmitten von glitzernden, kleinen, hübschen Gegenständen, die mich mit ihrer freundschaftlichen Nähe umgaben; dann verschlang ein strahlendes Lichtermeer das Ganze und ließ eine neue Szenerie entstehen. Alles war weiß, in allen Schattierungen von kristallrein bis milchig, von matt bis glänzend; das hatte nichts mit einer möglichen Wirklichkeit zu tun, aber es war schön. Ich sagte mir, daß darin vielleicht die wahre Natur der Kunst bestand, nämlich erträumte Welten, unmögliche Welten darzustellen, und daß das etwas war, das ich nie kennengelernt hatte, etwas, wozu ich mich nie fähig gefühlt hatte; ich begriff ebenfalls, daß die Ironie, die Komik, der Humor verschwinden mußten, da die zukünftige Welt eine Welt des Glücks war und es für solche Dinge darin keinen Platz mehr geben würde.
    Vincent hatte nichts von einem dominanten Männchen, er hatte kein Interesse an einem Harem, und wenige Tage nach dem Tod des Propheten führte er ein langes Gespräch mit Susan, und anschließend gab er den anderen Mädchen ihre Freiheit wieder. Ich weiß nicht, was sie zueinander sagten, ich weiß auch nicht, was sie glaubte, ob sie in ihm eine Reinkarnation des Propheten sah oder ob sie ihn als Vincent wiedererkannte und ob er ihr gestand, daß er der Sohn des Propheten war, oder ob sie sich eine Vorstellung machte, die irgendwo dazwischen lag, aber ich glaube, daß all das für sie nicht sehr wichtig war. Jede Form von Relativismus lag Susan fern, und auch die Frage nach der Wahrheit interessierte sie im Grunde nicht, sie konnte sich im Leben nur der Liebe, und zwar ganz der Liebe, hingeben. Und da sie einen neuen Menschen kennengelernt hatte, den sie vielleicht schon seit langem liebte, fand sie einen neuen Lebensinhalt, und ich wußte ganz sicher, daß sie bis zu ihrem letzten Tag zusammenbleiben würden, bis daß der Tod sie scheidet, wie man so schön sagt, außer daß es diesmal vielleicht keinen Tod geben würde, wenn es Miskiewicz gelingen sollte, seinen Plan zu verwirklichen, und sie in verjüngten Körpern gemeinsam wiedergeboren würden, dann könnten sie zum ersten Mal in der Geschichte der Welt tatsächlich eine Liebe erleben, die kein Ende nimmt. Nicht die Mutlosigkeit setzt der Liebe ein Ende, nein, die Mutlosigkeit kommt von der Ungeduld, von der Ungeduld der Körper, die wissen, daß sie dem Tod geweiht sind, und leben möchten und die in der kurzen Zeit, die ihnen gewährt ist, sich nichts entgehen lassen möchten und die begrenzte, schwindende, unzureichende Zeit des Lebens, die ihnen noch zur Verfügung steht, maximal ausnutzen möchten und daher niemanden lieben können, weil alle anderen ihnen begrenzt, schwindend und unzureichend vorkommen.
    Trotz dieses Kurswechsels in Richtung Monogamie — ein Kurswechsel, der sich im übrigen stillschweigend vollzog, denn Vincent hatte keinerlei Erklärung in dieser Hinsicht abgegeben, keinerlei Anweisung erteilt, die Tatsache, daß er Susan als einzige Lebensgefährtin auserkoren hatte, war nur eine individuelle Wahl — wurde die Woche nach der »Wiederauferstehung« von verstärkter sexueller Aktivität gekennzeichnet, die zugleich freier und vielseitiger war, ich hörte sogar etwas von richtigen kollektiven Orgien. Die Paare, die sich im Zentrum aufhielten, schienen jedoch nicht darunter gelitten zu haben, denn offenbar hatte sich kein Paar getrennt, und ich bemerkte nicht einmal irgendeinen Streit. Vielleicht gab die wesentlich näher gerückte Aussicht auf die Unsterblichkeit dem Konzept der nicht besitzergreifenden Liebe, das der Prophet sein ganzes Leben lang gepredigt hatte, ohne daß es ihm je gelang, irgend jemanden

Weitere Kostenlose Bücher