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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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distanzierter und seltsamer war. Flic und der Professor waren auf jeden Fall hocherfreut über die Veränderungen, die sich in ihm vollzogen, ich glaube, daß sie nicht damit gerechnet hatten, ein derart überzeugendes Ergebnis zu erzielen. Der einzige, der schlecht darauf reagierte, war Gerard, den ich nicht mehr den Humoristen nennen konnte, denn er irrte den ganzen Tag durch die unterirdischen Gänge, als hoffte er immer noch, dort den Propheten zu treffen. Er wusch sich nicht mehr, begann zu stinken und warf Vincent mißtrauische, feindselige Blicke zu, genau wie ein Hund, der seinen Herrn nicht wiedererkennt. Vincent selbst redete wenig, aber er hatte einen leuchtenden, wohlwollenden Blick und machte den Eindruck, als bereite er sich auf ein Gottesurteil vor, als habe er alle Furcht verbannt; später vertraute er mir an, daß er in jenen Tagen bereits an den Bau der Botschaft und deren Innenausstattung gedacht hatte, er wollte nichts von den Plänen des Propheten übernehmen. Er hatte ganz offensichtlich die Italienerin vergessen, deren Tod ihm vorher so schmerzliche Gewissensbisse bereitet zu haben schien; und ich muß zugeben, daß auch ich sie praktisch vergessen hatte. Miskiewicz hatte im Grunde vielleicht recht: eine Eisblume, eine hübsche vorübergehende Konstellation … Meine Karriere im Showbusineß hatte mein Moralempfinden ein wenig abgeschwächt, dennoch besaß ich noch gewisse Überzeugungen, wie ich glaubte. Die Menschheit gründete sich wie alle Lebewesen, die Formen von Sozialleben aufwiesen, auf das Tötungsverbot innerhalb der eigenen Gruppe und ganz allgemein auf eine annehmbare Begrenzung der Gewaltanwendung bei der Lösung von Konflikten zwischen den einzelnen; die Zivilisation als solche hatte im Grunde nur das zum Inhalt. Dieses Prinzip galt für alle erdenklichen Zivilisationen, für alle vernunftbegabten Wesen, wie Kant gesagt hätte, ganz gleich, ob diese Wesen sterblich oder unsterblich waren, das war eine unverrückbare Gewißheit. Nachdem ich ein paar Minuten nachgedacht hatte, wurde mir klar, daß Francesca in den Augen des Professors nicht der Gruppe angehörte: Er versuchte eine neue Gattung zu schaffen, und diese würde keine größere moralische Verpflichtung den Menschen gegenüber haben als diese gegenüber Eidechsen oder Quallen; und vor allem wurde mir klar, daß ich keinerlei Skrupel haben würde, dieser neuen Gattung anzugehören, und daß mein Abscheu vor dem Mord vor allem sentimentale oder affektive und nicht rationale Gründe hatte. Als ich an Fox dachte, wurde mir klar, daß mich die Tötung eines Hundes ebensosehr schockiert hätte wie die eines Menschen und vielleicht noch mehr; und wie in allen schwierigen Situationen meines Lebens hörte ich dann schlicht auf zu denken.
    Die Bräute des Propheten waren in ihren Zimmern geblieben und hatten nicht mehr Informationen über die Ereignisse bekommen als die anderen Anhänger, sie hatten die Nachricht mit der gleichen Gutgläubigkeit aufgenommen und warteten voller Vertrauen darauf, einen verjüngten Liebhaber wiederzufinden. Ich sagte mir irgendwann, daß es vielleicht Schwierigkeiten mit Susan geben würde, schließlich hatte sie Vincent persönlich kennengelernt und mit ihm gesprochen; doch dann begriff ich, daß dies nicht eintreffen würde, denn auch sie hatte einen starken Glauben, der vermutlich noch stärker war als der aller anderen, und daß ihr Charakter sogar die Möglichkeit des Zweifels ausschloß. In dieser Hinsicht, sagte ich mir, war sie ganz anders als Esther, ich konnte mir unmöglich vorstellen, daß Esther einem so unrealistischen Dogma anhängen würde, und gleichzeitig wurde mir bewußt, daß ich seit dem Beginn des Seminars nicht mehr ganz so oft an sie dachte, und das war gut so, denn sie hatte sich immer noch nicht gemeldet, obwohl ich mindestens zehn Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte. Aber ich litt nicht allzusehr darunter, ich war gewissermaßen woanders, in einem Raum, der zwar noch menschlich, aber völlig anders war als alles, was ich bisher kennengelernt hatte, sogar manche Journalisten waren, wie ich später feststellte, als ich ihre Berichte las, empfänglich für diese eigenartige Atmosphäre, für dieses Gefühl des Wartens auf ein apokalyptisches Ereignis.
    Am Tag der Wiederauferstehung versammelten sich die Anhänger in den frühen Morgenstunden am Fuß des Hügels, obwohl Vincents Erscheinen erst bei Sonnenuntergang vorgesehen war. Zwei Stunden später

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