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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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begannen die Hubschrauber der Networks brummend die Zone zu überfliegen — der Professor hatte ihnen schließlich die Genehmigung dazu erteilt, aber er hatte allen Journalisten verboten, das Gelände zu betreten. Bisher gab es für die Kameraleute nicht viel zu filmen — ein paar Aufnahmen von einer friedlichen kleinen Menge, die in völliger Stille, wortlos und praktisch regungslos darauf wartete, daß das Wunder geschah. Als die Hubschrauber wiederkamen, wurde die Atmosphäre etwas angespannter — die Anhänger haßten die Medien, was durchaus verständlich war, wenn man bedenkt, wie sie bisher von der Presse behandelt worden waren; aber es gab keine feindseligen Reaktionen, keine drohenden Gesten, kein Geschrei.
    Gegen fünf Uhr nachmittags ging ein Raunen durch die Menge, ein paar Lieder erklangen, wurden gedämpft aufgenommen, dann wurde es wieder still. Vincent saß im Schneidersitz in der größten Höhle und wirkte nicht nur sehr konzentriert, sondern gleichsam der Zeit entrückt. Gegen sieben Uhr tauchte Miskiewicz im Eingang der Höhle auf. »Bist du bereit?« fragte er ihn. Vincent nickte wortlos und stand federnd auf, sein langes weißes Gewand umgab wallend seinen abgemagerten Leib.
    Miskiewicz ging als erster hinaus, betrat den kleinen Vorplatz auf der Anhöhe, die die Menge der Anhänger überragte; alle sprangen auf. Die Stille wurde nur durch das regelmäßige Dröhnen der Hubschrauber gestört, die in stationärem Flug in der Luft verharrten.
    »Das Tor ist geöffnet und der Weg beschritten worden«, sagte er. Seine Stimme wurde sehr gut verstärkt, ohne Verzerrung und ohne Echo, ich war mir sicher, daß die Journalisten mit einem guten Richtmikrophon eine brauchbare Aufnahme machen konnten. »Das Tor ist geöffnet und der Weg beschritten worden, erst in der einen Richtung, dann in der anderen«, fuhr er fort. »Die Schranke des Todes existiert nicht mehr; die Verkündigung des Propheten ist jetzt in Erfüllung gegangen. Er hat den Tod besiegt und ist wieder unter uns.« Nach diesen Worten ging er ein paar Schritte zur Seite und senkte respektvoll den Kopf. Wir mußten nur etwa eine Minute warten, aber sie kam mir endlos vor, niemand sagte etwas oder rührte sich mehr, alle Blicke waren auf den Eingang der Höhle gerichtet, der nach Westen ging. Genau in dem Augenblick, als ein Strahl der untergehenden Sonne die Wolken durchbrach und den Eingang erhellte, kam Vincent heraus und betrat den Vorplatz: Dieses Bild, das ein Kameramann der BBC aufnahm, sollte als Schleife von allen Fernsehsendern der Welt ausgestrahlt werden. Ein Ausdruck der Anbetung erfüllte die Gesichter, manche Anhänger streckten die Arme dem Himmel entgegen; aber es ertönte kein Schrei, kein Gemurmel. Vincent hob die Hände, und nach ein paar Sekunden, in denen er nur in das Mikrophon hauchte, das jeden Atemzug übertrug, ergriff er das Wort: »Ich atme wie jeder von euch …«, sagte er sanft. »Und doch gehöre ich nicht mehr derselben Gattung an. Ich kündige euch eine neue Menschheit an …«, fuhr er fort. »Seit ihrem Ursprung wartet die Welt auf die Geburt eines ewigen Wesens, das gleichzeitig mit ihr besteht, um sich in ihm widerzuspiegeln wie in einem reinen Kristall, unbefleckt von der Zeit. Dieses Wesen ist heute kurz nach siebzehn Uhr geboren worden. Ich bin der Paraklet und die Erfüllung des Versprechens. Noch bin ich allein, doch mein Alleinsein wird nicht lange dauern, denn ihr werdet mir bald folgen. Ihr seid meine ersten Weggefährten, dreihundertzwölf an der Zahl; ihr seid die erste Generation eines neuen Geschlechts, das dazu berufen ist, den Menschen zu ersetzen; ihr seid die ersten Neo-Menschen. Ich bin der Ausgangspunkt, ihr seid die erste Welle. Heute beginnt für uns ein neues Zeitalter, in dem das Verstreichen der Zeit nicht mehr dieselbe Bedeutung hat. Heute beginnt für uns das ewige Leben. Dieser Augenblick wird für immer im Gedächtnis bewahrt.«
     
     

Daniel25,6
    Außer Daniel1 hat es nur drei weitere Augenzeugen dieser entscheidenden Tage gegeben; die Lebensberichte von Slotan1 — den er den »Professor« genannt hat — und Jerôme1 — dem er den Beinamen »Flic« gab — stimmen im wesentlichen mit seinem Bericht überein: Die Anhänger waren unmittelbar von der Sache überzeugt, sie glaubten vorbehaltlos an die Wiederauferstehung des Propheten … Der Plan scheint sofort geklappt zu haben, falls man dabei überhaupt von einem »Plan« sprechen kann; Slotan1 hatte, wie sein

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