Die Mglichkeit einer Insel
mich hinsetzte; sie unterhielt sich weiter mit ihren Freunden, gemeinsam riefen sie Erinnerungen an andere Partys wach, und in diesem Augenblick begriff ich die Sache wirklich. Sie ging für ein Jahr oder vielleicht für immer in die USA; dort würde sie neue Freunde kennenlernen und natürlich einen neuen boyfriend finden. Sie verließ mich zwar, aber eben auf die gleiche Weise wie die anderen, meine Stellung unterschied sich nicht von der der anderen. Das Gefühl der ungeteilten Zuneigung, das ich für sie empfand und das mich immer mehr quälen und schließlich zerstören sollte, wurde von ihr nicht erwidert, war in ihren Augen nicht gerechtfertigt, nicht begründet: Wir besaßen nicht das gleiche Fleisch, wir konnten weder den gleichen Schmerz noch die gleiche Freude empfinden, wir waren ganz eindeutig zwei getrennte Wesen. Isabelle hatte nichts für Lust, Esther dagegen nichts für Liebe übrig, sie wollte nicht verliebt sein, sie lehnte das Gefühl der Ausschließlichkeit, der Abhängigkeit ab, und ihre ganze Generation lehnte es ab, genau wie sie. Und ich mit meinen romantischen Kindereien, meiner Anhänglichkeit, meinen Ketten irrte zwischen ihnen umher wie ein vorsintflutliches Gespenst. Für Esther wie für alle Mädchen ihrer Generation war die Sexualität nur ein angenehmer Zeitvertreib, der von Verführungskunst und Erotik gesteuert wurde und keinerlei affektive Verpflichtung voraussetzte; vermutlich ist die Liebe — genau wie Nietzsche zufolge das Mitleid — seit jeher nur eine Fiktion gewesen, die von den Schwachen erfunden worden ist, um bei den Starken Schuldgefühle hervorzurufen und deren Freiheit und natürlicher Grausamkeit Grenzen zu setzen. Die Frauen waren einst schwach gewesen, besonders zur Zeit der Niederkunft, sie hatten in den Anfängen einen mächtigen Beschützer im Leben gebraucht, und zu diesem Zweck haben sie die Liebe erfunden, aber heute waren sie stark geworden, waren frei und unabhängig und verzichteten seither darauf, ein Gefühl zu erwecken oder zu empfinden, das keinerlei konkrete Rechtfertigung mehr besaß. Das mehr als tausendjährige männliche Vorhaben, das heutzutage in den pornographischen Filmen deutlich zum Ausdruck kommt und das darin besteht, der Sexualität jegliche affektive Konnotation zu nehmen und sie in den Bereich des reinen Zeitvertreibs einzureihen, hatte sich endlich in dieser Generation durchsetzen können. Was ich empfand, konnten diese jungen Leute weder empfinden noch wirklich verstehen, und hätten sie es verstehen können, wären sie davon peinlich berührt gewesen wie beim Anblick einer lächerlichen, etwas schmachvollen Sache oder angesichts eines Stigmas aus älterer Zeit. Nach Jahrzehnten der Konditionierung und eifrigen Bemühens hatten sie es schließlich geschafft, eines der ältesten menschlichen Gefühle ihrem Herzen zu entreißen, und jetzt war es geschehen, was zerstört war, konnte nicht erneut gebildet werden, ebensowenig wie sich die Scherben einer zerbrochenen Tasse selbst wieder zusammenfügen konnten, sie hatten ihr Ziel erreicht: Zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens würden sie die Liebe kennenlernen. Sie waren frei.
Gegen Mitternacht legte jemand Technomusik auf, und die Leute begannen wieder zu tanzen; die Dealer waren gegangen, aber es gab noch ziemlich viele Poppers und genug Ecstasy. Ich verlor mich in unangenehmen, dumpfen Betrachtungen, als irrte ich durch eine Folge dunkler Räume. Ohne bestimmten Grund mußte ich an Gerard, den elohimitischen Humoristen, zurückdenken. »Das ist völlig un-wichs-dich …«, sagte ich irgendwann zu einem Mädchen, einer stumpfsinnigen Schwedin, die sowieso nur Englisch sprach; sie blickte mich seltsam an, und da bemerkte ich, daß mich mehrere Leute seltsam anstarrten und ich anscheinend schon seit einer Weile Selbstgespräche führte. Ich nickte, blickte auf die Uhr, ging zum Swimmingpool und setzte mich in einen Liegestuhl; es war schon zwei Uhr morgens, aber es herrschte immer noch eine stickige Hitze.
Einige Zeit später stellte ich fest, daß ich Esther schon lange nicht mehr gesehen hatte, und machte mich mehr oder weniger auf die Suche nach ihr. In dem Raum, in dem die Party stattgefunden hatte, war kaum noch jemand; ich stieg im Flur über mehrere Leute hinweg und entdeckte sie schließlich in einem der hinteren Schlafzimmer, wo sie umgeben von mehreren jungen Männern auf dem Bett lag; sie hatte bis auf den goldfarbenen Minirock, der bis zur Taille hochgeschoben war, alles
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