Die Mglichkeit einer Insel
jeder seine genau festgelegte Aufgabe hatte und die auf Hochtouren lief. Vincent erwartete mich mit dem Handy in der Hand im Eingangsflur, bereit aufzubrechen. Als er mich sah, stand er auf, schüttelte mir herzlich die Hand und schlug mir vor, ihn in ihre neuen Räumlichkeiten zu begleiten. Er hatte ein kleines Bürogebäude gekauft, die Umbauarbeiten waren noch nicht abgeschlossen, Handwerker waren dabei, Isolierplatten und Halogenschienen anzubringen, aber gut zwanzig Mitarbeiter waren schon bei der Arbeit: Manche telefonierten, andere tippten Briefe, brachten Datenbänke auf den neuesten Stand oder was weiß ich, auf jeden Fall befand ich mich in einem Kleinbetrieb oder besser gesagt in einem mittelständischen Unternehmen. Als ich Vincent zum erstenmal gesehen hatte, hätte ich mir nie vorstellen können, daß er sich eines Tages in einen Firmenchef verwandeln würde, aber warum nicht, und zudem schien er sich in seiner neuen Rolle durchaus wohl zu fühlen; hin und wieder können im Leben mancher Leute auch Verbesserungen eintreten, der Lebensprozeß kann nicht nur als reiner Niedergangbetrachtet werden, das wäre eine maßlose Vereinfachung.
Nachdem er mich zwei Mitarbeitern vorgestellt hatte, kündigte er mir an, daß sie gerade einen wichtigen Sieg errungen hatten: Nach einem mehrmonatigen Rechtsstreit hatte das Verfassungsgericht ein Urteil gefällt und erlaubte der elohimitischen Kirche, die religiösen Gebäude, die die katholische Kirche nicht mehr zu unterhalten imstande war, für den eigenen Gebrauch zu kaufen. Die einzige damit verbundene Auflage war die gleiche, die auch schon den vorherigen Besitzern gemacht worden war: Sie mußten sich verpflichten, in Zusammenarbeit mit der Nationalen Kasse für Denkmalschutz das künstlerische und architektonische Erbe instand zu halten; was die religiösen Zeremonien anging, die im Inneren der Gebäude abgehalten wurden, wurde ihnen jedoch keinerlei Beschränkung auferlegt. Selbst in Zeitaltern, die ästhetisch stärker begünstigt waren als unseres, erklärte Vincent, wäre es undenkbar gewesen, innerhalb weniger Jahre eine solche Fülle von künstlerischen Glanzleistungen zu planen und zu verwirklichen; diese Entscheidung erlaubte ihnen nicht nur, den Gläubigen zahlreiche Kultstätten von großer Schönheit zur Verfügung zu stellen, sondern darüber hinaus all ihre Bemühungen auf den Bau der Botschaft zu konzentrieren.
Gerade in dem Augenblick, als er begann, mir seine Vorstellung von der Ästhetik der Kultzeremonien auseinanderzusetzen, betrat Flic in einem tadellos sitzenden marineblauen Blazer das Büro; auch er war offensichtlich in Höchstform und schüttelte mir energisch die Hand. Die Sekte schien wirklich nicht unter dem Tod des Propheten gelitten zu haben; ganz im Gegenteil, anscheinend klappte alles bestens. Dabei war seit der zu Beginn des Sommers inszenierten Wiederauferstehung auf Lanzarote nichts passiert, aber das Ereignis war so medienwirksam gewesen, daß mehr nicht nötig gewesen war, die Anfragen um Information rissen nicht ab, und häufig folgte darauf eine Beitrittserklärung, die Anzahl der Gläubigen und die zur Verfügung stehenden Mittel nahmen ständig zu.
Am selben Abend lud mich Vincent gemeinsam mit Flic und dessen Frau zum Abendessen ein — es war das erstemal, daß ich ihr begegnete, sie machte tatsächlich den Eindruck einer gestandenen, soliden und eher warmherzigen Frau. Ich wunderte mich wieder einmal über die Tatsache, daß man sich Flic sehr gut als Manager eines Unternehmens vorstellen konnte — sagen wir mal als Personalchef — oder als Beamten, der damit beauftragt war, Subventionen für die Landwirtschaft in Hochgebirgszonen zu verteilen; nichts an ihm ließ auf eine mystische, nicht einmal eine religiöse Neigung schließen. Er schien sogar ausgesprochen unempfindlich zu sein, denn er teilte Vincent ohne sichtliche Gefühlsbewegung mit, daß man ihm von einer beunruhigenden Entwicklung innerhalb gewisser Regionen berichtet habe, in denen die Sekte erst seit kurzem Fuß gefaßt hatte — insbesondere in Italien und Japan. Nichts in dem Dogma wies daraufhin, wie die Zeremonie des freiwilligen Abschieds zu verlaufen hatte. Da sämtliche für die Rekonstruktion des Körpers erforderlichen Informationen in der DNA enthalten waren, konnte die Leiche der Anhänger der Verwesung überlassen oder in Asche verwandelt werden, das war völlig egal. Eine ungesunde Theatralisierung bei der Beseitigung der
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