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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Leichenbestandteile schien sich nach und nach in gewissen regionalen Gruppen zu entwickeln, davon waren vor allem Ärzte, Sozialarbeiter und Krankenschwestern betroffen. Ehe sich Flic verabschiedete, übergab er Vincent ein Dossier von etwa dreißig Seiten und drei DVDs — die meisten dieser Zeremonien waren gefilmt worden. Ich nahm die Einladung an, über Nacht zu bleiben; Susan schenkte mir einen Cognac ein, während Vincent zu lesen begann. Wir saßen in dem Wohnzimmer, das seinen Großeltern gehört hatte, nichts hatte sich dort seit meinem ersten Besuch verändert: Die Kopflehnen der Sessel und des Sofas aus grünem Samt waren noch immer mit Schondeckchen aus Spitze versehen, und auch die gerahmten Fotos der Alpenlandschaften waren noch da, ich erkannte sogar den Philodendron neben dem Klavier wieder. Vincents Gesicht verdüsterte sich bei der Lektüre des Dossiers zunehmend, er machte für Susan eine Zusammenfassung auf englisch, und dann zitierte er ein paar Beispiele für mich:
    »In der Gruppe von Rimini hat man die Leiche eines Anhängers völlig ihres Bluts entleert; die Teilnehmer haben sich damit vollgeschmiert und dann seine Leber und seine Sexualorgane verspeist. In der Gruppe von Barcelona hat ein Typ darum gebeten, an Schlachterhaken aufgehängt zu werden, um anschließend allen zur Verfügung zu stehen; seine Leiche ist vierzehn Tage lang so in einem Keller an den Haken hängen geblieben: Die Teilnehmer bedienten sich, schnitten sich eine Scheibe ab und verzehrten sie im allgemeinen an Ort und Stelle. In Osaka hat ein Anhänger darum gebeten, seine Leiche in einer hydraulischen Presse zerquetschen, komprimieren und sie auf eine Kugel von zwanzig Zentimeter Durchmesser reduzieren zu lassen, die mit einem durchsichtigen Silikonfilm überzogen werden sollte, um anschließend als Bowlingkugel zu dienen; er war anscheinend zu Lebzeiten ein passionierter Bowlingspieler gewesen.«
    Er hielt mit leicht zitternder Stimme inne; er war sichtlich schockiert vom Ausmaß, das die Sache annahm.
    »Das ist eine Tendenz unserer Gesellschaft …«, sagte ich. »Eine allgemeine Tendenz zur Barbarei, es besteht kein Grund, daß ihr davon ausgeschlossen bleibt…«
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich weiß nicht, wie ich das bremsen soll. Das Problem liegt darin, daß wir zu keinem Zeitpunkt über Moral gesprochen haben …«
    »There are not a lot of basic socio-religious emotions …«, unterbrach ihn Susan. »If you have no sex, you need ferocity. That's all…«
    Vincent blieb stumm, dachte nach und schenkte sich ein weiteres Glas Cognac ein. Am nächsten Morgen beim Frühstück kündigte er uns seinen Entschluß an, eine weltweite Aktion zu starten: MACHT DEN LEUTEN EINE FREUDE — GEBT IHNEN SEX. Wenige Wochen nach dem Tod des Propheten hatten die Anhänger ihre sexuellen Aktivitäten wieder eingeschränkt, bis sich diese auf einem Niveau stabilisierten, das ziemlich genau dem nationalen Durchschnitt entsprach, also auf sehr niedrigem Level. Dieser Niedergang der Sexualität war ein Phänomen, das man auf der ganzen Welt beobachten konnte, es betraf alle Gesellschaftsschichten, alle Industrieländer und verschonte nur Heranwachsende und sehr junge Menschen; selbst die Homosexuellen hatten sich nach einer kurzen, durch die Lockerung der Sitten ausgelösten Periode hektischer Aktivität wieder stark gemäßigt, strebten die Monogamie und ein ruhiges, geregeltes Leben zu zweit an, das Bildungsreisen und der Entdeckung von Landweinen gewidmet war. Für den Elohimismus war das ein besorgniserregendes Phänomen, denn auch wenn sich eine Religion auf das Versprechen des ewigen Lebens gründet, erhöht sie ihre Anziehungskraft ganz beträchtlich, sobald sie im Diesseits scheinbar ein Leben anzubieten hat, das ausgefüllter, reicher, aufregender und fröhlicher ist. »Mit Christus lebst du intensiver« war in etwa das ständige Thema der Werbekampagnen, die die katholische Kirche unmittelbar vor ihrem Verschwinden veranstaltet hatte. Vincent hatte daher über die Anspielung auf Fourier hinaus daran gedacht, an die Praxis der heiligen Prostitution, die in Babylon von den klassischen Quellen bezeugt worden ist, wieder anzuknüpfen und in der ersten Zeit an diejenigen unter den ehemaligen Bräuten des Propheten zu appellieren, die dazu bereit waren, um so etwas wie eine orgiastische Tournee zu veranstalten; und zwar mit dem Ziel, den Anhängern das Beispiel einer ständigen sexuellen Hingabe vor Augen zu führen und in

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