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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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allen lokalen Niederlassungen der Kirche eine Welle der Sinnenfreuden und der Fleischeslust zu propagieren, die es ermöglichte, der Ausbreitung der nekrophilen, morbiden Praktiken Einhalt zu gebieten.
    Susan fand die Idee ausgezeichnet: Sie kannte die Mädels, konnte sie anrufen und war sich sicher, daß die meisten begeistert zusagen würden. Im Verlauf der Nacht fertigte Vincent eine Reihe von Zeichnungen an, die im Internet abgebildet werden sollten. Sie waren eindeutig pornographisch (sie stellten Gruppen von zwei bis zehn Personen dar, Männer und Frauen, die ihre Hände, ihr Geschlecht und ihren Mund für so gut wie sämtliche Spielarten benutzten, die man sich vorstellen kann), dennoch waren sie in hohem Maße stilisiert, besaßen äußerst reine Linien und hoben sich deutlich von dem widerlichen, quasi-fotografischen Realismus ab, der die Werke des Propheten kennzeichnete.
    Nach wenigen Wochen stellte sich heraus, daß die Aktion ein voller Erfolg war: Die Tournee der Bräute des Propheten wurde zu einem Triumph, und die Anhänger bemühten sich, in ihren Gruppen die erotischen Konfigurationen nachzuvollziehen, die Vincent zu Papier gebracht hatte; sie fanden ein derartiges Vergnügen daran, daß sich der Rhythmus der Versammlungen in den meisten Ländern verdreifachte. Die rituelle Orgie wurde also im Gegensatz zu anderen sexuellen Praktiken profaneren und jüngeren Ursprungs wie etwa die Swingermode nicht als etwas Veraltetes angesehen. Noch bezeichnender war es, daß die alltäglichen Gespräche unter den Anhängern, wenn sie auf eine gewisse Gegenliebe stießen, immer öfter von Zärtlichkeiten, intimen Liebkosungen oder sogar gegenseitigem Masturbieren begleitet wurden; kurz gesagt, die Resexualisierung der menschlichen Beziehungen schien ihr Ziel erreicht zu haben. Und da wurde man plötzlich auf eine Einzelheit aufmerksam, die in den ersten Momenten der Begeisterung allen entgangen war: Vincent hatte sich in seinem Wunsch zu stilisieren weit von der realistischen Darstellung des menschlichen Körpers entfernt. Der Phallus war zwar relativ ähnlich (auch wenn er geradliniger, unbehaart und ohne sichtbare Venen dargestellt war), aber die Scheide beschränkte sich in seinen Zeichnungen auf eine unbehaarte lange, schmale Spalte mitten im Unterleib, die in der Verlängerung der Arschspalte angesiedelt war und sich zwar weit öffnen konnte, um einen Pimmel aufzunehmen, aber für jede Art von Ausscheidungsfunktion ungeeignet war. Allgemeiner gesagt, waren alle Ausscheidungsorgane verschwunden, und die Wesen, die er sich in dieser Form ausgedacht hatte, konnten zwar einen Liebesakt vollziehen, waren aber ganz offensichtlich unfähig, sich zu ernähren.
    Man hätte sich damit zufriedengeben und die Sache als rein künstlerische Konvention ansehen können, wäre nicht der Professor Anfang Dezember aus Lanzarote zurückgekommen, um über den Fortgang seiner Arbeit Bericht zu erstatten. Auch wenn ich noch im Lutetia wohnte, verbrachte ich die meiste Zeit in Chevilly-Larue; ich gehörte zwar nicht dem Führungsgremium an, war aber einer der wenigen, die die Ereignisse, die mit dem Tod des Propheten verbunden waren, als Augenzeuge miterlebt hatten, und alle vertrauten mir, selbst Flic verheimlichte mir nichts mehr. Natürlich passierte auch in Paris so einiges, es gab die Tagespolitik, ein kulturelles Leben; doch ich war mir sicher, daß sich die wichtigen, bedeutsamen Ereignisse in Chevilly-Larue abspielten. Ich war seit langem davon überzeugt, auch wenn ich diese Gewißheit weder in meinen Filmen noch in meinen Sketchen hatte zum Ausdruck bringen können, da ich vorher noch nicht wirklich mit diesem Phänomen konfrontiert worden war: Politische oder militärische Ereignisse, wirtschaftliche Wandlungen, ästhetische oder kulturelle Veränderungen können im Leben der Menschen manchmal eine sehr große Rolle spielen; aber nichts kommt je eine solche historische Bedeutung zu wie der Entstehung einer neuen oder dem Zusammenbruch einer bestehenden Religion. Den Bekannten, denen ich noch manchmal in der Bar des Lutetia begegnete, erzählte ich, daß ich schrieb; sie nahmen wahrscheinlich an, daß ich einen Roman verfaßte, und waren nicht sonderlich erstaunt darüber, denn ich hatte schon immer im Ruf gestanden, ein ziemlich literarischer Komiker zu sein. Wenn sie gewußt hätten, sagte ich mir manchmal, wenn sie gewußt hätten, daß es sich nicht um eine einfache romanhafte Erzählung handelte, sondern daß ich mich

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