Die Mglichkeit einer Insel
verantwortungslos und ständig auf der Suche nach Sinnengenüssen; sie würden so leben wollen, wie es die kids in ihrer Mitte bereits taten, und wenn sich das Alter mit seiner ganzen Last bemerkbar machte und sie nicht mehr imstande waren, den Kampf weiterzuführen, würden sie sich das Leben nehmen; aber vorher würden sie der elohimitischen Kirche beitreten, ihren genetischen Code speichern lassen und so in der Hoffnung sterben können, dieses dem Genuß geweihte Dasein ewig fortzusetzen. Das war die Richtung, in die dieser historische Prozeß gehen würde, zumindest auf lange Sicht, und zwar nicht nur im Westen; die westliche Welt leistete nur die Vorarbeit, wies den Weg, so wie sie es seit dem Ende des Mittelalters getan hatte.
Und dann würde das Menschengeschlecht in seiner gegenwärtigen Form verschwinden; dann würde eine neue Gattung entstehen, die man noch nicht benennen konnte und die vielleicht schlimmer, vielleicht besser sein würde, deren Ehrgeiz aber begrenzter sein und die auf jeden Fall ruhiger sein würde: Man sollte nicht unterschätzen, welche Folgen die frenetische Ungeduld für die Geschichte der Menschheit gehabt hat. Vielleicht hatte Hegel, dieser ungehobelte Dummkopf, doch recht, vielleicht war ich eine List der Vernunft. Es war unwahrscheinlich, daß die Gattung, die uns folgen würde, in ebensolchem Maß eine soziale Gattung war wie wir. Seit meiner Kindheit hatte ich immer einen Gedanken gehört, der alle Diskussionen beendete, alle Meinungsverschiedenheiten glättete, ein Gedanke, der fast immer einen absoluten, ruhigen, unbestrittenen Konsens ausgelöst hatte und der sich etwa folgendermaßen zusammenfassen ließ: »Der Mensch kommt allein auf die Welt, lebt allein und stirbt allein.« Dieser Satz, der sogar einfältigen Geistern einleuchtete, wurde auch von scharfsinnigen Denkern als Fazit gezogen; er rief bei allen Gelegenheiten einhellige Zustimmung hervor, und sobald diese Worte ausgesprochen waren, hatte jeder das Gefühl, als habe er noch nie etwas gehört, das so schön, so tiefsinnig und so zutreffend war — unabhängig vom Alter, vom Geschlecht und von der gesellschaftlichen Stellung der Gesprächspartner. Das traf schon auf meine Generation zu, aber noch stärker auf Esthers Altersgenossen. Diese Einstellung konnte auf lange Sicht kaum eine starke Gemeinschaftsfähigkeit begünstigen. Die Zeit der Gemeinschaftsfähigkeit war vorbei, sie hatte eine wichtige Rolle innerhalb der Geschichte gespielt; sie war in den Anfängen, als sich die menschliche Intelligenz herausbildete, unentbehrlich gewesen, aber heute war sie nur noch ein unnützes, störendes Überbleibsel. Der Sexualität erging es seit der allgemeinen Verbreitung der künstlichen Befruchtung ebenso. »Onanieren bedeutet, mit jemandem einen Geschlechtsakt zu haben, den man wirklich liebt« — dieser Satz wurde verschiedenen Persönlichkeiten zugeschrieben, von Keith Richards bis zu Jacques Laçan; auf jeden Fall war er in dem Moment, in dem er ausgesprochen wurde, seiner Zeit voraus und konnte daher keine nachhaltige Wirkung erzielen. Der Geschlechtsverkehr würde im übrigen sicherlich noch eine Weile weiterbestehen, und zwar als Grundlage für die Werbung und als Prinzip narzißtischer Differenzierung, wobei er jedoch immer mehr einer Gruppe von Spezialisten, einer erotischen Elite vorbehalten sein würde. Der narzißtische Kampf würde solange dauern, wie sich bereitwillige Opfer dafür finden ließen, die darin ihre Ration Demütigung suchten, er würde vermutlich ebenso lange dauern wie die Gemeinschaftsfähigkeit selbst und würde wohl deren letztes Überbleibsel sein, aber schließlich doch verschwinden. Was die Liebe anging, so konnte man nicht mehr auf sie zählen: Ich war vermutlich einer der letzten Männer meiner Generation gewesen, dessen Eigenliebe gering genug war, um imstande zu sein, jemand anderen zu lieben, wenn auch nur sehr selten: genau zweimal in meinem Leben. Wenn man individuelle Freiheit und Unabhängigkeit anstrebt, ist keine Liebe möglich, alles andere ist eine Lüge, und zwar eine der größten Lügen, die je ersonnen worden sind; Liebe ist nur dann möglich, wenn der Wunsch nach Zerstörung, nach Verschmelzung, nach individueller Selbstaufgabe vorhanden ist, und zwar in einem gewissen ozeanischen Gefühl, wie man früher sagte, also in etwas, das es sowieso in naher Zukunft nicht mehr geben wird.
Drei Jahre zuvor hatte ich in Gente Libre ein Foto ausgeschnitten, auf dem der Penis
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