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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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vergaß.
    Der leicht humoristische Ton, die Selbstironie — und auch die direkte Anspielung auf Elemente des menschlichen Lebens — waren hier so ausgeprägt, daß diese Notiz ohne Schwierigkeit auch von Daniel1, unserem Vorfahren aus ferner Zeit, hätte stammen können anstatt von einem seiner neo-menschlichen Nachfolger. Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Mein Vorgänger hatte sich so intensiv mit der lächerlichen und zugleich tragischen Biographie von Daniel1 beschäftigt, daß er sich nach und nach verschiedene Aspekte von dessen Persönlichkeit zu eigen gemacht hatte; was in gewissem Sinn durchaus dem Ziel der Gründer entsprach; aber der Lehre der Höchsten Schwester zuwider hatte er keine ausreichende kritische Distanz zu wahren vermocht. Diese Gefahr bestand, sie war registriert worden, und ich fühlte mich auch imstande, ihr zu trotzen; vor allem wußte ich, daß es keinen anderen Ausweg gab. Wenn wir die Ankunft der Zukünftigen vorbereiten wollten, mußten wir zunächst die Schwächen, die Neurosen und die Zweifel der Menschheit nachvollziehen; wir mußten sie uns völlig zu eigen machen, um sie anschließend zu überwinden. Die exakte Duplikation des genetischen Codes, das gründliche Nachdenken über den Lebensbericht des Vorgängers, das Verfassen des Kommentars: das waren die drei Säulen unseres Glaubens, die seit der Zeit der Gründer unverändert geblieben sind. Ehe ich mir ein leichtes Essen zubereitete, faltete ich die Hände zu einem kurzen Gebet an die Höchste Schwester, und sogleich fühlte ich mich wieder bei klarem Verstand, ausgeglichen, aktiv. Bevor ich einschlief, überflog ich den Kommentar von Marie22; ich wußte, daß ich bald mit Marie23 in Kontakt treten würde. Fox streckte sich neben mir aus, winselte leise. Er würde an meiner Seite sterben und wußte das; er war jetzt schon ein alter Hund; er schlief fast augenblicklich ein.
     
     

Daniel1,13
    Es war eine andere Welt, die von der normalen Welt nur durch ein paar Zentimeter Stoff getrennt war — ein unerläßlicher gesellschaftlicher Schutz, denn 90 Prozent aller Männer, die Esther begegneten, verspürten augenblicklich die Lust, sie zu penetrieren. Nachdem ihre Jeans ausgezogen war, spielte ich eine Weile mit ihrem rosa String und stellte fest, daß ihre Scheide schnell feucht wurde; es war fünf Uhr nachmittags. Ja, es war eine andere Welt, und ich blieb darin bis zum nächsten Morgen um elf — der letzte Moment, um noch ein Frühstück zu bekommen, und es wurde höchste Zeit, daß ich etwas zu mir nahm. Ich hatte vermutlich zwischendurch mehrmals kurz geschlafen. Was den Rest anging, reichten diese wenigen Stunden aus, um meinem Leben einen Sinn zu geben. Ich übertrieb nicht, und mir war bewußt, daß ich nicht übertrieb: Wir befanden uns jetzt in einem Stadium absoluter Einfachheit. Die Sexualität oder genauer gesagt das sexuelle Begehren war natürlich ein Thema, das ich oft in meinen Sketchen angeschnitten hatte; daß sich viele Dinge auf dieser Welt um die Sexualität oder genauer gesagt um das sexuelle Begehren drehen, war mir so klar wie jedem anderen — und vielleicht noch klarer als vielen anderen. Deshalb hatte ich mich als alternder Komiker wohl manchmal von einer gewissen lauen Skepsis übermannen lassen: Die Rolle der Sexualität war vielleicht wie viele oder fast alle Dinge auf dieser Welt etwas übertrieben worden; vielleicht handelte es sich dabei um eine einfache List, die nur dazu diente, den Konkurrenzkampf unter den Menschen und die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft zu erhöhen. Vielleicht hatte die Sexualität keine größere Bedeutung als ein Mittagessen bei Taillevent oder ein Bentley Continental GT; vielleicht war das Aufheben, das man um sie machte, völlig unberechtigt.
    Diese Nacht hat mir gezeigt, daß ich mich geirrt hatte, und brachte mich dazu, die Dinge etwas einfacher zu sehen. Als ich am folgenden Tag wieder in San Jose war, ging ich an die Playa de Monsul. Ich betrachtete das Meer und die Sonne, die sich über das Meer hinabsenkte, und schrieb ein Gedicht. Die Sache war als solche schon erstaunlich, denn ich hatte noch nie zuvor ein Gedicht geschrieben und, was noch hinzukam, mit Ausnahme von Baudelaire praktisch nie Gedichte gelesen. Im übrigen war die Poesie, soweit ich informiert war, so gut wie tot. Ich kaufte mir regelmäßig eine vierteljährlich erscheinende Literaturzeitschrift mit eher esoterischer Tendenz — ohne wirklich dem Literaturbetrieb anzugehören,

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