Die Mission des Wanderchirurgen
völlig fremd war. Sie selbst stammte aus Ascalon am östlichen Rande des Mittelländischen Meeres, und sie hatte in den elf Jahren, die sie schon in Tanger an der Seite ihres Mannes lebte, noch kein einziges Mal Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt verspürt.
Sie ging zu dem Pfostenbett und zupfte ein paar Kissen zurecht. Wieder überkam sie Ungeduld. »Wo bleibt der Kerl nur«, zischte sie halblaut vor sich hin.
»Meint Ihr mich?«
Die Hausherrin fuhr zusammen. Nur für einen Augenblick war sie überrascht, dann hatte sie sich wieder gefangen. Sie musterte den Ankömmling, der nur wenige Schritte von ihr entfernt dastand. Ja, das war er! An seinem blonden gelockten Haar, das im Gegenlicht der Kerzen schimmerte, hätte sie ihn unter tausend anderen erkannt. Wie gut er mit seinen markanten Gesichtszügen aussah! Er war zwar nicht so groß wie der Guinea-Neger, aber von stattlicher Erscheinung. Nur seine Kleidung ließ etwas zu wünschen übrig. Die gepolsterte Hüfthose und das Wams über dem Spitzenhemd saßen zwar tadellos, hatten aber schon bessere Tage gesehen. Ein Umhang fehlte ganz, wäre aber bei dem heißen Wetter auch des Guten zu viel gewesen. Dafür trug er eine Art Kasten bei sich, dazu einen ledernen Beutel. Vermutlich führte er darin seine Arzneien mit sich.
»Ja, ich warte auf Euch«, erwiderte die Gebieterin. Sie ging langsam auf den Besucher zu und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. Sie wusste, dass sie verführerisch aussah, denn bei Kerzenlicht wirkten ihre herben Gesichtslinien weich, ihre Lippen voller, ihre kalten Augen wärmer. »Wie darf ich Euch anreden? Lord …?«
Der Ankömmling hob abwehrend die Hand. »Nein, nein, das ist nicht nötig. Nennt mich einfach Cirurgicus. Als ein solcher darf ich mich mit Fug und Recht bezeichnen, denn ich habe in London das Examen als
Cirurgicus Galeonis
bei Professor Banester abgelegt.«
»Wie Ihr wollt. Allerdings scheint es mir ungewöhnlich, wenn jemand ein Lord ist und sich nicht so anreden lässt.« Das Lächeln der Hausherrin hielt unvermindert an. Es war ein Lächeln mit nichts dahinter als Zähnen.
»Nun« – Vitus hüstelte leicht verlegen –, »um die Wahrheit zu sagen, spricht zwar alles dafür, dass ich von Adel bin, aber ein letztes Glied in der Beweiskette fehlt mir noch, und solange dies nicht gefunden ist, bin ich einfach Vitus von Campodios oder, noch kürzer, Cirurgicus. Und wie darf ich Euch anreden?«
»Mich?« Die Gebieterin zog die Augenbrauen zusammen, wie sie es immer tat, wenn sie scharf nachdachte. Was hatte der gut aussehende Besucher gesagt? Es müsse erst noch bewiesen werden, dass er ein Lord sei? Dann war er mit Sicherheit keiner. Ein Hochstapler also? Nein, ein armseliger Klosterschüler! Wenn überhaupt. Ein Stich des Ärgers durchfuhr sie. Dennoch lächelte sie weiter und entspannte die Brauen. »Mein Name ist Âmina Efsâneh, wie Ihr durch meinen Brief schon wisst. Ich bin die Gemahlin von Chakir Efsâneh, dem reichsten Kaufherrn der Stadt. Doch sparen wir uns die Förmlichkeiten, Cirurgicus, nennt mich Âmina, das mag genügen.«
»Wie Ihr meint – Âmina.« Vitus deutete eine Verbeugung an, verzog dann aber plötzlich das Gesicht und verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Die Hausherrin wollte nach dem Grund fragen, doch der Besucher kam ihr zuvor: »Ihr habt mich rufen lassen, weil Ihr an der englischen Krankheit leidet. Nun, offen gestanden macht Ihr nicht den Eindruck, als hättet Ihr Fieber und Schweißausbrüche. Und todesmatt wirkt Ihr schon gar nicht.«
»Äh, ich …« Âmina Efsâneh war für einen kleinen Moment verunsichert. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre List so leicht durchschaut werden würde.
Vitus’ Blick wurde energisch. »Augenscheinlich ist das Ganze ein Missverständnis. Gestattet deshalb, dass ich mich empf …«
»Nein! Wartet!« Die Gebieterin hielt ihn am Ärmel fest. »Ihr habt natürlich Recht, es ist ein Missverständnis, und ein großes dazu! Ich werde es aufklären. Aber nun kommt erst einmal, legt Eure Utensilien ab. Alles Weitere können wir beim Essen besprechen.« Sie zog ihren Besucher mit überraschender Kraft in den Raum und bedeutete ihm, sich zu setzen.
Er gehorchte widerstrebend. »Wie Ihr meint. Ich möchte nicht unhöflich sein. Meine Zeit ist begrenzt, denn Freunde warten auf mich.«
»Gewiss, gewiss.« Die Hausherrin setzte sich ebenfalls, darauf achtend, dass der Kerzenschein günstig auf ihr Gesicht fiel. »Wovon darf ich Euch
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