Die Mission des Zeichners
was immer es war, es konnte leicht auf ihn zurückfallen.
Sein Bedürfnis, Estelle zu sehen und sich zu vergewissern, dass McIlwraith ihm die Wahrheit über sie gesagt hatte, lenkte ihn für kurze Zeit von der Ausweglosigkeit seiner Lage ab. Immer mehr kam er sich vor wie ein Mann, der in einem Sumpf stecken geblieben war, und mit jedem Versuch, sich zu befreien, nur noch tiefer in den Morast gezogen wurde. Selbst seine Freude über McIlwraiths Rückkehr von den Toten wurde ihm vergällt, weil ihm dadurch noch größere Gefahren drohten. Und jetzt...
Im Phoenix House war hinter einem der erleuchteten Fenster im oberen Stockwerk eine Bewegung zu erkennen. Spandrel hielt jäh den Atem an, als ein Vorhang zurückgeschlagen wurde. Die Konturen einer Gestalt waren zu sehen, die einen Blick auf die Straße hinunterwarf. Von seiner Position aus konnte Spandrel erkennen, dass es eine Frau war. Ihr langes dunkles Haar fiel über ihre Schultern, die ihr weit ausgeschnittenes Kleid freigab. Ihre Züge blieben Spandrel verborgen, doch allein schon ihre Haltung mit dem leicht hochgereckten Kopf und einem erhobenen Arm verriet ihm, dass es Estelle war. Gebannt starrte er zu ihr nach oben. Ihm war klar, dass sie ihn nicht sehen konnte, doch halb hoffte, halb fürchtete er, dass sie seine Nähe irgendwie spürte. Dann ließ sie den Vorhang wieder los, und ihr Schatten verlor sich im Raum. Sie war verschwunden.
Spandrel blieb noch einige Minuten länger stehen. Er grübelte darüber nach, was er nun mit diesem flüchtigen Blick gewonnen hatte. McIlwraith hatte ihm gesagt, dass sie dort lebte, und er hatte nie ernsthaft daran gezweifelt. Dennoch hatte er einen inneren Zwang verspürt, sie mit seinen eigenen Augen zu sehen. Und jetzt hatte er sie zu Gesicht bekommen. Doch dies brachte keine neuen Erkenntnisse und bewies nichts. Streng genommen konnte er sich nicht sicher sein, dass es wirklich sie gewesen war.
Mit jäher Entschlossenheit trat Spandrel aus dem Eingang und stapfte mit gesenktem Kopf die Jermyn Street in östlicher Richtung hinunter. Jetzt haderte er mit sich, dass er seinem Drang nachgeben hatte und in diese Gegend gewandert war. Mit der Wiederentdeckung Estelles war ihm bestätigt worden, dass sie Walpoles Geliebte war und er sie damit unwiderruflich verloren hatte. Endgültiger hätte nicht einmal ihre Verbannung ans andere Ende der Welt sein können.
Während Spandrel durch die Straße stürmte, achtete er kaum auf andere Passanten. An der Ecke zur Eagle Street nahm er lediglich aus den Augenwinkeln wahr, dass ein Mann auf ihn zusteuerte. Mit einem Schritt zur Seite wollte er ausweichen und weiterhasten, doch der andere stellte sich ihm in den Weg. Es war ein großer, bulliger Bursche, in einen Mantel mit breitem Revers gehüllt, mit schmalkrempigem Hut, mächtiger Perücke und einem Stock, den er in der Hand wirbelte. Erst jetzt, als es zu spät war, erkannte Spandrel ihn. Er blieb abrupt stehen. »Mr. Walpole!«, ächzte er nervös.
»Mr. Spandrel!« Walpole stach ihm die Stockspitze in die Brust. »Was machen Sie hier?
»Ich ...« Spandrel unterbrach sich, wenn auch nur für einen Augenblick. Ein Gutes hatten ihn die vielen Missgeschicke des letzten Jahres wenigstens gelehrt: Geistesgegenwart. Walpole wollte seiner Mätresse einen Besuch abstatten. Da würde er Spandrel bestimmt nicht glauben, dass ihn der Zufall ausgerechnet in die Straße geführt hätte, in der sie lebte. Und Spandrel konnte es sich nicht leisten, bei einer Lüge ertappt zu werden. Doch es gab Lügen... und Lügen. »Ich habe... Estelle de Vries gesehen... In der Pall Mall. Und da bin ich ihr hierher gefolgt... zum Phoenix House.«
»Estelle de Vries? Hier?«
»Es hat ganz den Anschein, Sir.«
»Sind Sie sicher?«
»Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen.«
»Gut, gut.« Walpole ließ den Stock sinken und verließ die Mitte der Straße, um sich in den Schatten des nächsten Hauses zu stellen. Dann winkte er Spandrel zu sich und fragte mit gesenkter Stimme: »Phoenix House, sagen Sie?«
»Jawohl, Sir. Fast an der Ecke zur Duke Street.«
»Sehr gut. Sie können die Überprüfung dieser Angelegenheit mir überlassen. Sie selbst unternehmen nichts. Vor allem keine Annäherungsversuche an sie. Sie geben ihr mit keinem Zeichen zu erkennen, dass Sie nach London zurückgekehrt sind. Haben Sie verstanden?«
»Jawohl, Sir.«
»Gut.« Die Stockspitze berührte Spandrel an der Schulter. »Was ist mit der anderen Angelegenheit? Da wir
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