Die Mission des Zeichners
Amsterdam, Sir.«
»Zu früh, Jupe.« Sir Theodore gestattete sich ein mattes Lächeln. »Noch ein kleines bisschen zu früh.«
7 Einbruch
Das Goudene Vis war eine in hellen Farben gestrichene, gut geführte kleine Taverne in der Nähe des Montelbaanstoren, ein nicht mehr benutzter Wachturm am Hafen, den eine frühere Generation von Amsterdamer Stadtvätern nachträglich mit einer Uhr, einer hübschen Dachspitze und einer von einer Meerjungfrau gezierten Wetterfahne ausgestattet hatte. Von seinem Zimmer aus hatte Spandrel einen schönen Ausblick auf den Turm mitsamt dem Hafen, in den gleich neben der Taverne der Montelbaanswal-Kanal mündete. Er beobachtete die hin und her fahrenden Schiffe, das Kommen und Gehen vor den Lagerhallen am anderen Kanalufer und das Licht, das über der Stadt langsam silbern wurde, ehe es verblasste. Ansonsten hatte er zwei ganze Tage und eine Nacht lang wenig zu tun, sondern wartete nur auf die Gelegenheit, den Spieß gegen Ysbrand de Vries und Sir Theodore Janssen umzudrehen. Aus Furcht vor einer zufälligen Begegnung mit dem schrecklichen Hondslager oder womöglich sogar mit de Vries selbst, wagte er sich nicht auf die Straßen hinaus. Genauso wenig konnte er sich die Zeit in der Schankstube vertreiben. Er traute sich selbst nicht mehr, was das Trinken betraf. Abgesehen davon wurde er von schmerzenden Rippen und anderen Wehwehchen an allen möglichen Körperteilen regelmäßig an die Folgen von zu viel Alkohol erinnert. Nicht zuletzt hatte er kein Geld, um die Stunden mit Trinken totzuschlagen. Das, was ihm Zuyler geliehen hatte, hatte ausschließlich den notwendigen Ausgaben zu dienen und war nach Begleichung der Kosten für Bett und Verpflegung, Hammer und Meißel, mit denen er die Truhe in de Vries' Büro aufbrechen musste, und eine Laterne für den Weg durch das dunkle Haus fast restlos aufgebraucht. So blieb ihm nichts anderes übrig, als zu sitzen und zu warten.
Das Nichtstun regte jedoch seine Gedanken zum Wandern an, auch wenn das seinen Füßen verwehrt war. Was mochte die Depeschenkassette nur enthalten? Worin bestand das Geheimnis, das sein Tod hätte besiegeln sollen? De Vries und Janssen waren alte Männer und langjährige Freunde. Die Antwort konnte demnach irgendwo in der Vergangenheit liegen. Oder war sie am Ende in der Gegenwart begründet? Janssens Rolle beim Ruin der South Sea Company drängte sich in Spandrels Bewusstsein. Hatte Janssen dabei die Hände im Spiel gehabt? Wenn ja, war Spandrel womöglich drauf und dran, sich in Machenschaften verwickeln zu lassen, von denen seinesgleichen sich besser fern halten sollte.
Aber er steckte ja bereits tief drin. Und zwar von dem Augenblick an, als er Sir Theodores Angebot angenommen hatte. Jetzt konnte er da nicht mehr heraus - es sei denn, er stürzte sich ganz hinein, bis zum bitteren Ende. Sein Vater hätte ihn aufgefordert, die Finger davon zu lassen. Andererseits war sein Vater teilweise für seine jetzige Notlage verantwortlich. Dick Surtees dagegen hätte ihn zum Weitermachen angespornt. Sein draufgängerischer Schulkamerad war Spandrel schon seit Monaten nicht mehr in den Sinn gekommen. Und gesehen hatte er ihn seit Jahren nicht mehr, genauer gesagt, seit Dick seine Lehre abgebrochen hatte. Spandrels Vater hatte sie ihm auf Zureden seines Sohnes angeboten, doch Dick hatte gemeint, Vermessen sei todlangweilig, und er wolle jetzt auf Forschungsreisen, auf Abenteuersuche gehen. Aber Spandrel, hatte er hinzugefügt, solle bleiben, wo er war. »Du bist einfach nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem man Abenteurer macht, Billy, glaub's mir.«
Spandrel musste bei der Erinnerung lächeln. Dick hatte sich gründlich getäuscht. Wie es ihm jetzt erschien, waren Abenteuer nicht nur den tollkühnen Naturen vorbehalten.
Jeder konnte sie erleben. Sogar - oder vielleicht gerade - diejenigen, die nicht darauf aus waren.
Am Freitagnachmittag schlug das Wetter um. Eine zunehmende Brise lockerte die Wolkendecke und löste sie schließlich ganz auf. Damit veränderte sich auch die Stadt; sie leuchtete in dem vom Wasser des Hafens reflektierten glitzernden Licht. Bevor die Sonne unterging, bildete sie eine riesige scharlachrote Kugel und funkelte Spandrel noch einmal über die Amsterdamer Hausdächer hinweg an. Da wusste er auf einmal, dass das Warten bald ein Ende hatte.
Als die Uhr auf dem Montelbaanstoren neun schlug, ging Spandrel in die Schenke hinunter und trank zwei Gläser Rum. Holländischer Mut nannte man das hier,
Weitere Kostenlose Bücher