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Die Mission des Zeichners

Die Mission des Zeichners

Titel: Die Mission des Zeichners Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Goddard
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zu tun, heimliche Freude empfinden würde. Unwillkürlich hoffte er das sogar. Vielleicht bedeutete es ja ihre Befreiung. Und wenn dem so war...
    Wütend auf sich selbst, weil er seine Zeit mit solchen Gedankenspielen vergeudete, fuhr er herum und zog die Leiter zu sich herauf. Sie draußen angelehnt zu lassen wäre einer Einladung zu seiner Entdeckung gleichgekommen. Nachdem er die Leiter auf den Boden gelegt hatte, nahm er auch die Laterne herein und schloss das Fenster. Unvermittelt hüllte ihn Stille ein, eine Stille, die nur vom Ticken der Uhr durchbrochen wurde. Er sah sich in dem Raum um, betrachtete die Bücherregale, die Gemälde und die Büsten der Klassiker. Sie, wie Estelle, waren Embleme für de Vries' Reichtum und Macht. Ansonsten hatte er keine Verwendung dafür. Darüber hinaus bedeuteten sie ihm nicht mehr als irgendwelche anderen Gegenstände oder Menschen.
    Spandrel durchquerte den Raum und lauschte kurz an der Tür. Da er nichts hörte, drehte er den Griff herum. Die Tür öffnete sich auf einen unbeleuchteten Flur. Inzwischen mussten sich die Bediensteten in ihren Zimmern im Keller eingeschlossen haben, denn sonst hätte er bestimmt noch einen Lichtschimmer auf der Treppe gesehen. Doch es war überall dunkel.
    Vorsichtig zog er die Tür hinter sich zu und verharrte erneut, sämtliche Sinne angespannt. Uhren tickten. Der Wind ächzte. Das war alles. Kein anderer Laut. Keine Bewegung. Das Glück blieb ihm - und Zuyler - treu. Er schlich zur Treppe und begann sie zu erklimmen, wobei er aus Furcht, ein Knarzen zu verursachen, die Mitte der Stufen mied.
    Auf dem Treppenabsatz angekommen, wandte er sich nach links zum unmittelbar über der Bibliothek gelegenen Büro. Gegen alle guten Vorsätze hastete er auf einmal los, erreichte die Tür und öffnete sie gerade so weit, dass er hindurch schlüpfen konnte. Drinnen ließ er sich wieder von seiner Vorsicht leiten. Ohne die Klinke loszulassen, drückte er die Tür langsam zu, und als der Bolzen im Schloss eingerastet war, ließ er sie langsam los. Nun drehte er sich um und leuchtete mit der Laterne in den Raum, während seine Augen nach der Truhe suchten.
    Da war sie, an der Wand ihm gegenüber, zwischen dem Kamin und dem Fenster, eine massive Eisentruhe mit Messingbeschlägen und mit einer verriegelten Spange gesichert. Spandrel stellte sich sofort davor. Für den Schreibtisch, den er rechts von sich als dunklen Schemen vor dem Fenster wahrnahm, hatte er keinen Blick, sondern er kniete sich vor die Truhe und betastete die Spange. Zuyler hatte Recht gehabt wie mit allem, was er ihm gesagt hatte: Sie ließe sich ohne große Mühen aufsprengen. Allerdings ginge das nicht ohne Geräusche, und das wäre sein größtes Problem. Andererseits waren die Bediensteten alles andere als eifrig, so viel war ihm bereits klar. Und wenn sie ein Geräusch hörten, würde Zuyler ihnen bestimmt einreden, dass es von woanders käme.
    Als Spandrel die Laterne auf dem Boden abstellte, um Hammer und Meißel aus der Tasche zu ziehen, registrierte er aus dem Augenwinkel etwas irgendwie Störendes in dem Schatten am Rande des Lichtscheins. Bei genauerem Hinsehen erkannte er einen dunklen flüssigen Fleck auf den Dielen und dem Läufer vor dem Schreibtisch. Er hob die Laterne hoch und beleuchtete diesen Fleck.
    Es war Blut, tintenrotes Blut. Und auf dem Boden vor dem Schreibtisch lag eine Gestalt, ein Mensch. Spandrel stockte der Atem, als er Ysbrand de Vries' schlohweißes Haar erkannte. Ihm war sofort klar, dass der alte Mann tot war. Er war also gar nicht in das Konzert gegangen. Stattdessen war er jetzt bei seinem Schöpfer.
    Spandrel richtete sich langsam auf und stolperte zum Schreibtisch. Nun konnte er auch de Vries' Gesicht sehen. Es war vom Todeskampf verzerrt. Auf seiner Brust klebte Blut, und er selbst lag in einer großen Lache. Spandrels Fußspitze stieß gegen etwas. Er senkte den Blick und sah auf dem Läufer ein Messer mit glitzernder Klinge liegen. Er schaute wieder de Vries an, die zu einer Grimasse festgefrorenen Lippen, die ins Nichts starrenden, leeren Augen. Seine Gedanken überschlugen sich; er musste doch irgendetwas tun, irgendwie reagieren. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit. Welche Geheimnisse die Depeschenkassette auch immer barg, de Vries konnten sie jetzt nicht mehr schaden.
    Plötzlich flog die Tür auf. Licht flutete in den Raum. Spandrel wirbelte herum und erkannte den älteren Diener, der ihn am Mittwoch ins Haus gelassen hatte und der

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