Die Mission des Zeichners
genauso weit entfernt wie bei seinem Aufbruch.
Natürlich hatte er nur einen kurzen Aufenthalt in der Auberge du Lac vorgesehen, aber mitten in der Nacht hatte ihn ein heftiger Schüttelfrost geweckt und für die nächsten zwei Tage ans Bett gefesselt. Er war zu krank, um das Zimmer, geschweige denn den Gasthof zu verlassen. Laut der durchaus verständnisvollen Wirtin hatte er »la grippe; c'est partout«. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie auszuschwitzen. An dem Abend, an dem Craggs in London beerdigt wurde und Cloisterman in Baden umkehrte, war Spandrel zu völligem Nichtstun verurteilt.
Am Tag darauf begann sein Zustand allmählich wieder halbwegs dem eines Gesunden zu ähneln. Zumindest fühlte er sich am Nachmittag gut genug, um am Fenster seines Zimmers zu sitzen und dem An- und Ablegen der Boote am Steg unterhalb des Gasthofs zuzusehen. Die Sonnenstrahlen funkelten auf dem See und wärmten ihn durch das Fensterglas. Ein Hauch von Frühling hing in der Luft. Hätte es ihn nicht so bedrückt, dass er absolut nichts erreicht hatte, um sein McIlwraith geleistetes Versprechen einzulösen und Estelle de Vries zu stellen, hätte er angesichts der Szene draußen sogar eine gewisse Freude empfunden.
Wehmütiger als je zuvor, seit er McIlwraith auf der schneebedeckten Wiese vor den Toren Berns seinem Schicksal überlassen hatte, gedachte er des Schotten. Das lag nicht nur daran, dass er ihn als Menschen schmerzhafter vermisste, als er sich hätte vorstellen können. Jetzt erst merkte er, wie leicht es für ihn gewesen war, immer McIlwraith entscheiden zu lassen, was wann getan werden musste. Doch nun musste Spandrel in eigener Verantwortung handeln. Morgen würde er zum Simplon-Pass aufbrechen. Wenn Estelle diese Route gewählt hatte, war sie bestimmt längst auf der anderen Seite der Alpen, vielleicht sogar schon hinter Mailand. Allerdings waren Spandrels Kenntnisse der italienischen Geographie derart unzureichend, dass er bestenfalls raten konnte, wo sie war oder wie lange sie bis nach Rom brauchen würde. Er hätte bei McIlwraiths Ausführungen über die Strecke, die noch vor ihnen lag, besser zuhören sollen. Denn es sah ganz danach aus, als würde er sich auf jede Information verlassen müssen, die er unterwegs irgendwie aufschnappen konnte.
Glück würde dabei natürlich eine große Rolle spielen. Bisher schien es ihn ja nicht unbedingt begünstigt zu haben. Aber das Glück, sinnierte er, während er weiter zur Anlegestelle hinunterschaute, wandte sich nach eigener Willkür mal in die eine, mal in die andere Richtung.
Und als nun unter ihm das Boot am Kai festmachte und die Passagiere an Land gingen, lächelte das Glück auf einmal, und zwar nur für ihn.
Es waren drei Passagiere, zwei Männer und eine Frau. Beide Männer trugen vornehme Hüte, Perücken mit Bändern daran und weit geschnittene, edle Mäntel, deren Saum beim Gehen flatterte und unter denen Rüschenstrümpfe und mit Brokat bestickte Westen zum Vorschein kamen. Sie waren etwa gleichen Alters - Mitte bis Ende zwanzig - und litten eindeutig nicht unter Geldmangel. Zumindest konnten sie sich sündteure Schneider leisten. Äußerlich dagegen hätten sie kaum unterschiedlicher sein können. Einer war ein hoch gewachsenes Klappergestell mit einem schmalen, knochigen bleichen Gesicht, in dem seine roten weiblichen Lippen völlig unpassend schienen. Wie um seine zierlichen Füße vergessen zu machen, wirbelte er bei jedem Schritt in theatralischer Pose mit seinem Stock durch die Luft. Der andere war untersetzt und fleischig, sein Körper irgendwo zwischen jugendlicher Fülle und der Korpulenz mittleren Alters. Auffallend waren die puddingweichen Züge in seinem feixenden Gesicht, dessen hochrote Färbung auf ein cholerisches Temperament hinwies. Er stolzierte den Pier mit großtuerischem Gebaren hinunter, das vermutlich Selbstsicherheit demonstrieren sollte.
Beide waren Engländer. Spandrel hörte ihre Stimmen durch das geschlossene Fenster dröhnen, bekam aber nur den einen oder anderen Satzfetzen mit. Ihre Begleiterin stammte ebenfalls aus England. Das wusste er, selbst wenn sie, soweit er das beurteilen konnte, kein Wort von sich gab. Auch war es nicht ihr Geschmack hinsichtlich Kleidung, der sie verriet. Das himmelblaue Kleid, das unter ihrem pilzgrauen Mantel zum Vorschein kam, war unbestreitbar hübsch, aber merkwürdig unauffällig. Wenn er an ihrer Identität nicht einen Augenblick zweifelte, so lag das daran, dass er sie auf Anhieb
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