Die Mission des Zeichners
Geschichte, auf die sich Estelle und Spandrel bei ihrer hastigen Verhandlung in Vevey geeinigt hatten, enthielt genügend Wahrheit, um das zu verschleiern, was gelogen war. Estelles wirkliche Vergangenheit war Spandrel freilich nach wie vor unbekannt. War Estelle früher tatsächlich Miss Plenderlaith, die Unschuld vom Land, gewesen? Er neigte dazu, das in Frage zu stellen. Aber weil, wie Estelle einmal bemerkt hatte, das Geheimnis des erfolgreichen Lügens darin bestand, so wenig wie möglich zu erfinden, stimmte es vielleicht doch.
Unbestreitbar war indes die Geschicklichkeit, mit der sie Spandrel in die Geschichte mit einbaute, die sie Buckthorn und Silverwood bereits erzählt hatte, ein Märchen, das sie kunstvoll um ihn herum konstruierte und in dem sie ihre jeweilige Vergangenheit, als sie getrennt waren, zu einer gemeinsamen Gegenwart verwob. Es gab Augenblicke, in denen Spandrel sich tatsächlich für Estelles Vetter hielt. Deshalb konnte er es sich nicht leisten, den Mann, als den er sich ausgab, einmal nicht zu spielen. Die Fiktion musste aufrechterhalten werden - um ihrer beider willen.
Zum Glück waren Buckthorn und Silverwood kein neugieriges Paar, zumindest nicht in Bezug auf Spandrel. An ihm selbst hatten sie nicht das geringste Interesse. Ja, sie gaben sogar vor, ihn nicht wahrzunehmen. Ihre ganze Aufmerksamkeit widmeten sie Estelle, und auch da waren ihnen die Umstände, die ihr ihre Gesellschaft beschert hatten, keinen Gedanken wert, umso mehr dagegen die verlockenden Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Angesichts ihrer übertriebenen Galanterie und ihrer bemühten Scherze wurde deutlich, dass sie so vernarrt in Estelle waren, wie sie es von Anfang an beabsichtigt hatte. Sie waren gerade aus Oxford gekommen, gelangweilte Gecken, faul, eitel, arrogant und, wenn man ihnen Glauben schenken sollte, waren sie mit hunderten großer Männer und schöner Frauen bekannt. Aber in ihrem ganzen Leben waren sie noch nie einer Frau wie Estelle de Vries begegnet. Dessen war sich Spandrel sicher.
Als Estelles Vetter war Spandrel gezwungen, eine gewisse Vertrautheit mit ihr vorzugeben, wie auch sie im umgekehrten Fall. Solcherart Geheimnisse zu teilen war unbestreitbar aufregend, und da war es nur zu leicht, von einer herrlicheren Zukunft zu träumen, als er sie früher je hatte ins Auge fassen können. Aber wie er aus eigener Erfahrung wusste, gaben verlockende Aussichten schlechte Führer ab. Dass ihre Beziehung langlebig sein würde, war unwahrscheinlich. Darum erinnerte er sich an seinen Vorsatz, dass er ihr das Grüne Buch bei der ersten Erfolg versprechenden Gelegenheit entreißen und gemäß McIlwraiths letztem Willen dem Broderick-Ausschluss überbringen wollte.
Aber eine solche Gelegenheit ergab sich an den ersten drei Tagen ihres Aufenthalts in Genf nicht. Estelle verlangte -nicht ohne berechtigten Grund -, dass das Buch bis zu ihrer Abreise dort bleiben sollte, wo es verwahrt war - in einem Tresor in der Turretini-Bank. Buckthorn und Silverwood wähnten sich in dem Glauben, sie hätte dort eine Kassette mit Juwelen hinterlegt. Und warum auch nicht, zumal sie es ihnen so erklärt hatte? Was die Überquerung der Alpen betraf, hätten sie lieber bis nach Ostern gewartet, doch Estelle drängte auf einen sofortigen Aufbruch, angeblich aus Neugierde auf all die Kunstschätze aus der Antike, von denen ihr verstorbener Mann ihr vorgeschwärmt hatte. Spandrel wiederum war recht zufrieden mit sich, weil er mit der Unterstellung, dass Buckthorn und Silverwood sich zu sehr von blutrünstigen Reiseberichten über streunende Wölfe auf den Bergpässen hätten beeindrucken lassen, eine rasche Einigung herbeigeführt hatte. Nur eines fürchteten sie noch mehr als Gefahren und den Verzicht auf Bequemlichkeit: vor Estelle das Gesicht zu verlieren. So einigte man sich umgehend auf eine Abreise gleich am nächsten Morgen.
Am Nachmittag desselben Tages bat Estelle ihre Galane, sie zur Bank zu begleiten, damit sie die Kassette mit den Juwelen abholen konnte. Es entzückte die beiden, dass diese Ehre ihnen zufiel und nicht Spandrel. Dieser wiederum hatte keine andere Wahl, als sich eingeschnappt darüber zu geben, dass er übergangen worden sei. Was er tatsächlich empfand, war die zunehmende Befürchtung, dass sich während der Reise nach Rom nur noch sehr wenige Gelegenheiten ergeben würden, das Grüne Buch an sich zu bringen. Vermutlich wollte Estelle es sogar so einrichten, dass er überhaupt keine Gelegenheit
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