Die Mission des Zeichners
natürlich ein Schloss angebracht. Aber das sind nun mal keine gewöhnlichen Umstände.«
Der Deckel war lediglich mit Bügel und Haken gesichert. Spandrel klappte ihn auf, und da lag es vor ihm: ein Kassenbuch mit einfachem grünem Einband, Lederrücken und marmorierten Seitenrändern. Dafür, genauer gesagt, wegen seines Inhalts waren Männer gestorben, und er selbst hätte beinahe auch dazu gehört. Doch jetzt hatte er es vor sich. Er schob einen Finger unter den Deckel und schlug es auf.
Die Seiten waren in Spalten unterteilt. In der mittleren waren Namen aufgelistet, die eingegangenen und die geleisteten Zahlungen mit den jeweiligen Daten. Aber neben den meisten Namen standen keine Einnahmen, sondern Ausgaben. Und die Summen waren gewaltig: zehntausend Pfund hier, zwanzigtausend dort. Die auf der aufgeschlagenen Seite festgehaltenen Transaktionen waren etwa ein Jahr zuvor getätigt worden, und jede war von derselben Hand dokumentiert worden. Die Initialen, die der Schreiber über jedem Eintrag mit winzigen Buchstaben angefügt hatte, lauteten R.K. Spandrel blätterte zur nächsten Seite und dann gleich zur übernächsten. Ein wahrer Wald von Zahlen mit vielen Nullen starrte ihm entgegen. Er kehrte zur ersten Seite zurück und überflog die Namen. Plötzlich stockte ihm der Atem.
»Wundert dich das?« Estelles Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Sie stand jetzt dicht neben ihm und warf im Licht des Kaminfeuers einen flackernden Schatten auf das Buch. »So viele. Die Stolzen und die Mächtigen. Und alles, was sie entgegengenommen haben, bis zum letzten Penny.«
»Aber... ich hätte nie gedacht...«
»Dass es so viele sein würden? Oder dass sie so viel genommen haben? Einige haben weniger eingezahlt, als sie herausbekommen haben. Andere haben überhaupt nichts gezahlt. Jeder Einzelne von ihnen war - und ist - ein gekaufter Mann. Und was für Männer sie doch sind! Herzöge, Marquise, Grafen. Parlamentsabgeordnete, Höflinge, Minister, Männer von hohem Ansehen. Zuwendungen in Hülle und Fülle, mit denen die Großen und die Wohlhabenden überschüttet worden sind, während die Witwen der Seefahrer und die armen Ladeninhaber jeden Penny zusammenkratzen mussten, um sich einen bescheidenen Anteil zu leisten. Wundert es dich da noch, dass Pieter hunderttausend Pfund für dieses Buch verlangt hat?«
»Nein.«
»Das Buch, das du von London nach Amsterdam gebracht hast... für wie viel eigentlich?«
»Für ein Versprechen von so gut wie gar nichts im Vergleich zu...« Er deutete düster mit dem Kinn auf die Zahlenreihen.
»Dort, wo wir hinreisen... wäre es nicht vermessen, mehr als hunderttausend zu fordern.«
»Meinst du?«
»Ja. Sieh nur...« Sie blätterte weiter und tippte mit dem Finger auf einen bestimmten Vermerk. »Hier.«
Spandrel beugte sich vor, um besser lesen zu können. In der Zeile, auf der Estelles Finger ruhte, stand: Right Honourable J. Aislabie, on behalf ofH.M.
»Der Schatzkanzler«, erklärte Estelle. »Im Namen Seiner Majestät des Königs.« Ihr Finger wanderte nach rechts. »Anteile im Wert von hunderttausend Pfund. Das ist der Grund, warum Pieter unbedingt auf diese Summe aus war. Und wie viel wurde dafür gezahlt?« Sie zeigte auf die linke Spalte. »Zwanzigtausend Pfund. Nur zwanzig. Und dann wurde die gesamte Zuwendung mit immensem Gewinn an die Gesellschaft zurückverkauft, als der Kurs fast seinen höchsten Stand erreicht hatte. Was, glaubst du, würden die Bürger in London sagen, wenn sie das wüssten?«
»Ich glaube, ihnen wäre dann alles zuzutrauen.«
»Genau. Und das bedeutet, dass der Prätendent großzügig für dieses Buch - für unser Buch - zahlen wird.«
»Warum hat der König nicht großzügig gezahlt, als er es hätte bekommen können?«
»Die Nachricht muss irgendwie verlorenen gegangen sein. Pieter hat mit Mittelsmännern verhandelt. Diesen Fehler werden wir nicht machen.«
»Wirklich nicht?«
»Wir werden überhaupt keinen Fehler machen. Vertrau mir.«
»Schon wieder dieses Wort: Vertrauen.«
»Es kommt in vielen Gestalten. Und Versprechen kommen in verschiedenen Formen, nicht nur in Worten, William.«
»Wie denn noch?«
»Kannst du's nicht raten?«
Spandrel spürte einen Hauch von weicher Seide an der Hand. Er drehte sich zu Estelle um. Sie hatte den Gürtel ihres Nachtrocks aufgeknüpft, der sich weit geöffnet hatte. Darunter trug sie nur noch hauchdünne Wäsche. Auf einmal bekam Spandrel einen trockenen Mund. Widersprüchliche Instinkte
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