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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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Vielleicht wollte er ihr einen Wunsch erfüllen und endlich mit ihr Rollschuhlaufen gehen, er war hinüber zu der großen Rollschuhbahn gegangen, um sich nach den Modalitäten einer Miete und eines Billets zu erkundigen. Es sollte teuer sein. Die russischen Mädchen aus Helenes Gymnasialkurs hatten häufig über die Rollschuhbahn und ihre neuesten Bekanntschaften gesprochen, sie trafen sich regelmäßig dort und drehten Pirouetten. Die Mädchen waren alle jünger als Helene, sie kamen aus guten jüdischen Familien. Rollschuhlaufen musste ein Vergnügen sein. Helene wartete, bis der lange Zeiger auf der Sechs, auf der Sieben und schließlich noch, bis er auf der Acht stand. Dann ging sie hinein.
    Der Saal war gut besucht. Die Gäste saßen an den kleinen Tischen, sie vermehrten sich in den Spiegeln, die hoch hinauf bis unter die Decke reichten. Es war Mittagszeit, manche speisten Rouladen und Kartoffeln, es roch nach Wirsingkohl. Ein vornehmer Herr in Schwarz winkte einem zweiten, auffallend lässig gekleideten Herrn mit heller weiter Hose, Hosenträgern über einem ungebügelten Hemd und flachem, weißen Hut, es fehlte nur die Palette in der Hand; hier zog man sich gerne in eins der vornehmen Séparées zurück. Aus hohen Gläsern wurde Wein getrunken. Helenes Hals schnürte sich zu, sie blickte sich um, tatsächlich saß an manchem Tisch ein einzelner Gast, ältere und jüngere, aber kein Carl. Die Uhr über der getäfelten Bar zeigte Viertel vor zwei. Warum schlug ihr Herz so heftig? Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Helene trat aus dem Lokal hinaus auf den Kurfürstendamm. Es gab einen kleinen Menschenauflauf, eine ältere Dame rief immer wieder Dieb, Dieb. Andere hielten einen Jungen fest, er war wohl erst zehn oder zwölf. Er wehrte sich nicht, er weinte. Lausbengel, sagte einer der Männer, die ihn festhielten. Aber der alten Dame war das zu wenig. Sie schimpfte: Bengel wie dich sollte man einsperren, warte nur, bis die Polizei da ist!
    Helene wollte nicht länger warten. Sie wusste, dass Carl nicht mehr kommen würde.
    Vielleicht hatten sie sich missverstanden und er hatte eine andere Uhrzeit gemeint? Sie wusste genau, dass er um eins gesagt hatte. War es nicht möglich, er hatte etwas anderes gemeint? Vielleicht einen anderen Ort? Sie hatten sich schon häufig an dieser Ecke hier getroffen. Vielleicht wollte er sie heute woanders treffen und hatte versehentlich diesen Ort genannt, dabei aber an einen anderen gedacht? Helene wusste nicht, wohin sie sich wenden, wohin sie gehen sollte, sie spürte Angst und sagte sich doch, sie müsste keine Angst haben. Sie ging zum Kiosk und kaufte Zigaretten. Es war das erste Mal, dass sie sich Zigaretten kaufte. Sie hätte das Geld dringend für den Schuster benötigt, aber sie wollte jetzt nicht an einen Schuster denken, sie wollte eine Zigarette rauchen. Eine Zigarettenspitze besaß sie nicht, sie würde ohne rauchen müssen. Zwei Zündhölzer brachen ab, ehe es ihr gelang, die Zigarette anzuzünden. Ein Tabakstückchen löste sich und schmeckte bitter auf der Zunge. Es war nicht leicht, es mit den behandschuhten Fingern zu fassen zu kriegen. Helene wusste nicht mehr, in welche Richtung sie schauen sollte. Sie stand inmitten der vorübereilenden Menschen, deren Mittagspause wohl zu Ende war und die an ihren Arbeitsplatz zurückeilen mussten, manch einer mochte verabredet sein und musste hinüber zum Bahnhof laufen und einen Zug nach Westen bekommen.
    Der Wind blies ihr entgegen, Westwind, von der Gedächtniskirche her. Helene wollte tief atmen, den Rauch einsaugen. Süden, Osten, Norden. Doch ehe sie den Rauch bis tief in die Lunge ziehen konnte, verschlossen sich schon die Bronchien und Helene musste husten. Also paffte sie. Wölkchen kamen aus ihrem Mund. Der etwas säuerlich bittere Rauchgeschmack verursachte eine angenehme Übelkeit. Sie nahm schnelle, kurze Züge, blähte ihre Backen so weit es ging und ließ schließlich den Stummel in den Matsch zu ihren Füßen fallen, wo er sofort erlosch.
    Helene wusste nicht, wohin sie gehen und nach Carl suchen sollte. Sie lief den Tauentzien hinab zur Nürnberger Straße, sie lief um verschiedene Blöcke, vorbei an ihrer Schule, die sie seit einigen Monaten nicht mehr besuchen musste, und bog erst bei hereinbrechender Dunkelheit in die Geisbergstraße ein. Schon von der anderen Seite des Platzes her sah sie das schwarze Dach, kein noch so schwaches Licht brannte oben in der Kammer.
    Dennoch ging sie hinauf und

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