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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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prüfte, ob jemand gekommen war. Die Tür zur Kammer war verschlossen. Das Zimmer lag so da, wie sie es am Morgen verlassen hatten. Helene zog ihren Mantel nicht aus. Sie ging die Treppe wieder hinunter, vorbei an jenem jungen Mann, der im dritten Stock wohnte und häufig seinen Schlüssel vergaß, weshalb er mit einem Stapel Papier, auf das ein zu bearbeitendes Theaterstück oder Drehbuch geschrieben sein mochte, bei seinen Vermietern vor der Tür saß und wartete, bis jemand kam und ihm aufschloss. Meist hielt er einen Stift in der Hand und kritzelte etwas an den Rand der vollgetippten Seiten. Helene lief die Bayreuther Straße hinunter bis zum Wittenbergplatz und über die Ansbacher Straße wieder zurück bis zur Geisbergstraße, zum Viktoria-Luise-Platz, hinauf bis unter das Dach und wieder raus auf die Straße. Der Untermieter aus dem dritten Stock hatte wohl inzwischen Einlass gefunden.
    Helene fragte sich nicht mehr, weshalb Carl sie heute Mittag so dringend sprechen wollte, sie hoffte nur noch, dass er auftauchen und sie einander in die Arme fallen konnten. Er musste aufgehalten worden sein. Helene rauchte eine zweite Zigarette, bei der dritten Runde eine dritte, und schließlich hatte sie acht Zigaretten geraucht. Ihr war speiübel, Hunger verspürte sie keinen.
    Sie sagte sich, sie wolle zu Hause sein, wenn er käme. Wenn er käme, könnten sie gemeinsam essen; er würde seine Hand auf ihre Wange legen, wenn er nur käme.
    Sie zog ihre Schuhe aus. Die Vermieterin wollte sie nicht mehr stören und um heißes Wasser bitten. Also setzte sie sich ins Bett, wickelte ihre kalten Füße in die Decke und versuchte in dem neuen Buch zu lesen, das Carl ihr vor zwei Tagen mitgebracht hatte, doch kam sie über das erste Gedicht nicht hinweg. Sie las es immer wieder, jede Zeile mehrmals, und hatte sie die letzten Zeilen laut vor sich hingesagt, Von fernen Stunden krank / und leerst die Schale, / aus der ich vor dir trank, begann sie wieder mit den ersten: Was dann nach jener Stunde / sein wird, wenn dies geschah, / weiß niemand, keine Kunde / kam je von da. Helene verstand nur einen Bruchteil der Worte, ihr Sinn hing irgendwo dazwischen, halb noch in Gedanken, halb ganz verschlossen, wo doch ihr Herz klopfte und sich die Augen verengten. Als gäbe das eine Gewissheit, die sich ihr mit dem wiederholten Lesen aufdrängte und Besitz von ihr nahm. Einmal stand Helene auf. Sie fror. Unter dem Waschtisch befand sich ein Korb und über dem Korb hing das Unterhemd von Carl, das gewaschen werden musste. Sie zog sein Unterhemd auf die Haut, seinen Pyjama darüber. Über Nacht zählte sie den entfernten Glockenschlag. Als aus dem Morgendunkel die ersten Geräusche im Haus zu hören waren, blieb sie an der Wand auf dem Bett sitzen und dachte, es müsse etwas geschehen, damit sie aufstehen, sich waschen und ankleiden könne. Der Apotheker hatte gestern zu ihr gesagt: Bis morgen. Sie konnte ihn nicht warten lassen. Helene hörte Schritte auf der Treppe, ihrer Treppe, der letzten, die nur zu ihr hinauf in die Dachkammer führte. Es klopfte leise. Helene wusste, dass Carl nicht vergesslich war, er hatte den Schlüssel stets bei sich, sie wollte nicht öffnen. Es klopfte lauter, Helene schaute auf die Tür. Ihr Herz schlug schwer, es war über Nacht ganz müde geworden vom Schlagen. Helene wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, sie musste aufstehen, sie stand auf, sie musste zur Tür gehen, sie ging zur Tür, sie musste öffnen, sie öffnete.
    Vor der Tür stand die Vermieterin, sie trug noch ihren Morgenmantel. Fräulein Helene, sagte sie und blickte dabei seitwärts zum Boden. Helene hielt sich an der Türklinke fest, sie war so schwach, dass der Boden sich ihr leicht entgegenwölbte und bewegte, er drehte sich, er tanzte vor und zurück. Die Vermieterin hatte Mühe, so früh am Morgen sprachen manche Menschen nur ungern. Mein Telefon hat geklingelt, Herr Wertheimer hat mir gesagt, dass sein Sohn nicht mehr kommen werde, er sei verunglückt.
    Welcher Sohn, ging es Helene durch den Kopf.
    Sie wusste, dass Carl es war, der verunglückt war, sie ahnte es schon, ehe sie die Schritte auf der Treppe gehört hatte und die Tür hatte öffnen müssen. Aber welcher Sohn, von welchem Sohn sprach die Vermieterin jetzt? Helene sagte Ja, sie wollte ihren Kopf nicht unnötig bewegen, kein Nicken, kein Zurseitelegen, schließlich konnte er beim Drehen von ihren Schultern fallen.
    Ich habe den Professor Wertheimer gefragt, ob Sie bereits

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