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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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gefallen und konnte sie gehen, die Straße hinunter, am Wald entlang und unter der Sonne, die erbarmungslos schien, weinte sie. Sie fand in ihrer kleinen Handtasche kein Taschentuch, deshalb trocknete sie die Tränen von Zeit zu Zeit mit ihren nackten Unterarmen. Als die Nase lief, pflückte sie ein Ahornblatt und schnäuzte sich damit. Junge Eichentriebe im Unterholz. Sie lief durch den Wald, vorbei an den rotfleckigen Stämmen der Kiefern, hinweg über wulstige Wurzeln, der sandige Waldboden staubte.

Nachtfalle
    Warum habt ihr gedacht, ich wäre tot? Carl legte seinen Arm um Helene und zog sie mit einer leisen Bewegung an sich. Wie warm er war. Sein Pelzkragen schimmerte grün. Helene steckte ihre Nase in glattes Haar, Fell, das nach Carl roch, fein würziger Tabak.
    Alle haben das gedacht. Du warst verschwunden.
    Ich musste untertauchen. Carl wollte wohl nicht weitersprechen. Helene dachte, es konnte Gründe geben, von deren Exis tenz sie nichts wissen sollte. Sie war froh, dass er da war.
    Nur das Zwitschern des Vogels störte. Tschilp, tschilp. Steingrün. Die Vorhänge waren steingrün, flechtengrün, das Licht ließ das Grün fluten und die Vorhänge heller erscheinen. Helenes Herz hämmerte. Leichter Wind blies herein, die Vorhänge strauchelten. Das konnten nicht die Vorhänge im Hofzimmer der Beletage sein. Keinesfalls. Helene drehte sich um, ihr Herz raste, legte sie sich auf den Bauch, schlug es gegen die Matratze, pochte, als wolle es wohin, von hier nach dort, wälzte sie sich auf den Rücken, hüpfte es aus ihr hinaus, es überschlug sich, stolperte, Helene holte Luft, tief atmen, ruhig atmen, das Herz zähmen, nichts leichter als das, zu leicht das Herz, schon war es auf und davon. Helene zählte, Schlag für Schlag, sie zählte über hundert hinaus, ihr Hals wurde eng, das Herz rannte ihrem Zählen davon, sie legte sich die Finger an das Handgelenk, auch der Puls raste, Ruhepuls von hundertvier, fünf, sechs, sieben. Musste sie diese Decke kennen, war es ihre? Wo war die acht, es musste schon der zwölfte Schlag sein, hundertzwölf. Sie schloss ihre Augen fest, harte Augen, vielleicht konnte sie wieder zurück, zurück zu Carl. Aber es gelang nicht. Je unbedingter sie es wollte, desto ferner rückte er in den Traum, rückte in eine Welt, in der ihr Wille nichts war. Mit dem Betttuch trocknete Helene ihr Gesicht. Sonnenflecken auf der Matratze. Lichtmale einer Erinnerung, an was? Decken, Helene schob ihre Hand in das Licht, Sonne auf der Haut, das war schon etwas durchaus Feines. Ein feines Glück, so ein Tag mochte etwas bereithalten. Dunkle Flecken auf dem Laken, nasse, der Schweiß war ihr aus den Achseln geronnen, sie hatte aus den Poren unter ihren Armen geweint, Tränen, dünner Schweiß. Helene würde aufstehen, sie wurde erwartet, nach der Nachtschicht begann ihr Dienst heute erst um zwei. Helene stand auf, sie schwitzte nur noch mäßig, sie zog sich an. Am Abend zuvor hatte sie noch ihre Kleider gewaschen und sie über den Stuhl vor das Fenster gehängt, damit sie am Morgen trocken waren. Ihre Kleider rochen nach Fannys Seife, alle, außer seinem Unterhemd, das sie nach wie vor trug, sein Innen ihr Außen, wo er war, war jetzt sie, des Nachts. Sie wollte nicht, dass andere Menschen Carl rochen, das Gemisch, das Carl und sie mit der Zeit geworden waren.
    Draußen war die Luft voll Sonne, der Postbote ging pfeifend seines Weges, er schwang die Tasche vor und zurück, ein leichtes Schlenkern, vielleicht war er schon alle Briefe los, sein Blick streifte Helene, er pfiff freundlich durch die Zähne und nahm es zum Anfang einer bekannten Melodie. Zwei Kinder hüpften mit ihren Schulmappen auf dem Rücken das Pflaster ab, das eine fiel, das andere hatte es geschubst und rannte jetzt unter hämischem Lachen davon. Überall gab es Pfeifen und Pflaster und Hüpfen und Kinder und Wege, all das war keine Absicht, hatte mit Helene im Besonderen gar nichts zu tun, würde vermutlich so sein, wenn sie nicht wäre. Niemand meinte es schlecht mit Helene.
    Die Hitze des Sommers ließ die Luft über dem Pflaster flimmern, flüssige Luft, die Bilder verschwammen und Pfützen wurden sichtbar, wo schon seit Wochen keine mehr waren.
    Es roch nach Teer, auf der anderen Straßenseite wurde ein Holzzaun schwarz gestrichen, und der Boden unter Helenes Füßen gab leicht nach. Die Straßenbahn quietschte in der Kurve, sie fuhr langsam, das Quietschen zog sich, man hörte die Biege, das Schleifen und Funken, es hörte

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