Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
gewesen. Helene allein fehlte das Geld für ein Studium. Aber unabhängig davon war ihre hehre Vorstellung zu studieren in weite Ferne gerückt, es schien Helene, als gehörte dieser Wunsch zu einem anderen, früheren Leben, nicht mehr zu ihr. Helene wünschte sich nichts mehr. Visionen, da sie gemeinsam entwickelt, gemeinsam erwogen und gemeinsam erkoren worden waren, gab es nicht mehr. Sie waren mit Carl verschwunden. Denjenigen, der ihr Gedächtnis teilte, gab es nicht mehr. Helene sah auf. Wie lange mochten sie schon schweigen? Carls Vater hatte die halbe Schale Erdbeeren ohne Benutzung des Obstmessers verspeist. Aus der Kanne tröpfelte ein letzter schwarzer Grund und die anfangs so spürbare Freude und Aufregung von Carls Mutter schien an diesem Tisch erloschen zu sein.
Nun, dann. Carls Vater nahm die Serviette ab, die er sich oben in das Hemd gesteckt hatte, er legte sie neben das unbenutzte Obsttellerchen und das kleine Messer.
Mein Mann arbeitet viel.
Das stimmt nicht, ich arbeite nicht viel, ich arbeite gern. Der Professor legte seiner Frau zärtlich die Hand auf den Arm.
Er hat dort oben eine kleine Sternwarte. Carls Mutter zeigte hinauf zu der höher liegenden Terrasse, über deren Brüstung einige Fernrohre ragten.
Eine kleine, sagte der Professor und stand auf. Er nickte beiden zu und wollte sich verabschieden, doch Helene stand mit ihm auf.
Sie können sich glücklich schätzen, dass Sie Carl zum Sohn hatten. Er war ein wunderbarer Mensch. Helene wunderte sich über die Fröhlichkeit und Zuversicht in ihrer Stimme. Es klang wie ein Glückwunsch zum Geburtstag.
Carls Mutter weinte.
Er war ihr Liebling, sagte Carls Vater zu Helene. Helene musste wieder an die anderen beiden Söhne denken, von denen die beiden kein einziges Mal gesprochen hatten.
Carls Vater stellte sich jetzt neben den Stuhl seiner Frau, er nahm ihren Kopf in beide Hände und drückte ihn gegen seinen Bauch. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren langen, schmalen Händen. Etwas an dieser Geste erinnerte Helene an Carl, sein Nähertreten, wenn sie traurig und erschöpft gewesen war, die kalten, müden Füße, die er ihr gewärmt hatte.
Der Professor ließ seine Frau los. Ich werde Gisèle sagen, dass sie euch noch einen Tee bringt. Helene wollte ablehnen, sie wollte nicht mehr bleiben, sie konnte das Schweigen und die Farben nicht länger ertragen. Sie öffnete ihren Mund, aber kein Laut verließ ihre Kehle, und niemand bemerkte, dass sie aufgestanden war, um sich seinem Gehen anzuschließen. Der Professor gab ihr eine warme und feste Hand. Er wünschte ihr alles Gute und verschwand durch die Flügeltür ins Innere des Hauses. Helene musste sich wieder setzen.
Mein kleiner Liebling, sagte Carls Mutter mit einer Zärtlichkeit, die Helene einen Schauer über den Rücken scheuchte. Carls Mutter knetete ihr Taschentuch vor sich auf dem Tisch und beobachtete, in welchen Falten es auseinanderfiel. Am Ende ihrer langen Finger saßen ovale Nägel, deren weißer Halbmond schimmerte, sie waren von einer Ebenmäßigkeit, dass Helene nicht anders konnte, als auf die Hände von Carls Mutter zu starren.
Er wollte Sie heiraten, nicht wahr? Carls Mutter sah Helene mit einem offenen Blick an, einem Blick, der alles wissen wollte und auf alles gefasst war.
Helene schluckte. Ja.
Carls Mutter rannen die Tränen über das feine und schöne Gesicht. Carl konnte nicht anders, wissen Sie. Er war zum Lieben geboren.
Helene ging die Frage durch den Kopf: Sind wir das nicht alle? Aber vermutlich waren wir das nicht alle. Vermutlich stimmte es, dass manche Menschen inniger liebten als andere und Carl nicht anders konnte. Helene fragte sich, wie es passiert war, sie überlegte, ob sie danach fragen durfte, ob es der Mutter unangemessen und indiskret erschien, wenn Helene danach fragte. Wie genau ist er gestorben? Andererseits konnte Carls Mutter bis heute nicht wissen, dass sie an jenem Tag verabredet waren. Dass er auf dem Weg zu ihr gestorben war. Dass sie gewartet hatte, umsonst.
Helene hätte auch gern gewusst, ob Carl bei seinem Unfall Ringe bei sich gehabt hatte. Sie traute sich nicht, Carls Mutter danach zu fragen. Es stand ihr nicht zu. Seine letzte Absicht mochte ihm allein gehören, vielleicht noch seinen Erben, und seine Erben waren seine Eltern.
Es hat noch Schnee gelegen. Carls Mutter trocknete sich mit dem Taschentuch ihre Augen; neue Tränen quollen heraus und rollten über ihre Wange, unten am Kinn hingen sie, sammelten sich, bis sie so
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