Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
lange nicht auf. Helene mochte in letzter Zeit das Vage, das Ungenaue, sie lauerte ihm auf, doch sobald sie es zu erkennen glaubte, verflüchtigte es sich. Die Hitze verlangsamte das Treiben der Stadt, sie weichte die Bewohner der Stadt auf, dachte Helene, machte sie biegsam und sanft, sie erlahmte die Menschen. Je leichter Helene wurde, desto drückender lastete die Hitze auf ihr. Das war ihr nicht unangenehm. Helenes Körper war schmal geworden, nicht schwach. Sie hatte auf Leontines Empfehlungen hin im Bethanien eine Stelle bekommen und arbeitete nach Jahren zum ersten Mal wieder als Krankenschwester. Der Apotheker war erleichtert, geradezu entbürdet, hatte er doch zuletzt kaum noch gewusst, wovon er sie bezahlen sollte. Auch im Bethanien erhielt sie vorerst kein Geld, die ersten drei Monate galten als Probezeit, der Lohn sollte kommen, sobald sie ihre restlichen Papiere gebracht hätte. Helene lieh sich fürs erste etwas Geld von Leontine.
Helene war freundlich zu jedermann und sprach doch mit niemandem. Guten Tag, sagte sie im Zimmer sechsundzwanzig zu dem aufgedunsenen Mann, der im Sterben lag. Geht es Ihnen heute besser?
Natürlich, dank Ihrer Pillen gestern abend konnte ich endlich aufhören, mir Gedanken um mein Erbe zu machen, und etwas schlafen.
Die Patienten sprachen gerne mit ihr, nicht nur über ihr Leid, auch über ihre Verwandtschaft, die sich im Umfeld eines Sterbebettes besonders komisch verhalten konnte. So traute sich die Ehefrau des aufgedunsenen Mannes nicht mehr allein an sein Bett, stets kam sie in Begleitung seines jüngeren Bruders, dessen Hand sie mal suchte, mal verstieß, etwas war mit den Händen der beiden, und der Sterbende vertraute Helene an, dass er schon seit einigen Jahren von deren heimlichem Verhältnis wisse, sich aber nichts anmerken ließe, weil er sie guten Gewissens erben lassen wollte. Blieb so nicht alles in der Familie? Keiner der Patienten hätte es je gewagt, Helene zurückzufragen, wie es ihr ginge. Die Uniform schützte sie. Der weiße Kittel war ein stärkeres Signal als jede der Ampeln, die an immer mehr Kreuzungen der Stadt aufgestellt wurden und weithin leuchteten, anzeigten, wer gehen und wer stehen musste. Wer Weiß trug, durfte schweigen, wer Weiß trug, wurde nicht gefragt, wie es ihm ging. Die Höflichkeit war für Helene eine äußere Haltung, die ihre Verzweiflung kaum zähmte, eher fasste, die Anteilnahme am Leiden anderer stützte sie von innen. Sie dachte darüber nach, ob ihr aufgedunsener Patient wohl leichter sterben konnte, wenn er wusste, dass seine Frau ein Verhältnis mit dem Bruder hatte. Vielleicht bildete sich der Sterbende das Verhältnis nur ein, um den Abschied zu ertragen. Es fiel Helene leicht, sich die Namen der Patienten zu merken, ihre Herkunft, ihre Familiengeschichten. Sie wusste genau, in welchem Ton welcher Mensch gefragt werden wollte, und achtete es, wenn ein Kranker das Schweigen vorzog. Konnte Helene nachts einmal einschlafen, wachte sie vom Knirschen ihrer Zähne und vom Weinen auf. Nur wenn sie träumte, dass Carl zurückkam, sie umarmte und sich wunderte, weil er Helene und seine Familie in Schrecken und Trauer gestürzt hatte, und ein Missverständnis aufklärte, wo er doch gar nicht gestorben war, schlief sie gut. Doch war das Aufwachen nach solchen Nächten und die Rückkehr in ihr Leben, die Ankunft in so einen nächsten Tag ihres Lebens, einen selbstverständlichen, unerfragten, ungebetenen und gar nicht vorstellbaren Tag ihres Lebens schwer. Was war das, ihr Leben? Was sollte das sein, sollte es überhaupt etwas, es etwas, sie etwas? Helene versuchte zu atmen, leicht zu atmen, zu leicht. Ihr Brustkorb wollte sich nicht dehnen, kaum gelangte Luft hinein. Sie musste daran denken, wie es war, wenn man als Kind hinfiel, hinschlug, der Länge nach, und die Lunge durch den Aufschlag zusammenfiel, das Atmen wurde für eine Ewigkeit unmöglich, der Mund geöffnet, die Luft am Mund, aber der Körper sonst war dicht, verschlossen. Geläufig leben, äußerlich unbemerkt weiterleben, das fiel erstaunlich leicht. Sie war gesund, sie konnte jeden Finger einzeln strecken und beugen, sie streckte jeden Finger, alle Zehen beugen und strecken, weit auseinander, bis sie nach einer kurz geratenen Hand aussahen, den Kopf auf die Seite legen, ihr Körper gehorchte und die vegetativen Unregelmäßigkeiten waren keineswegs hinderlich, Helene konnte arbeiten, auch wenn sich das Herz manchmal überschlug und das Atmen schwerfiel.
Die
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