Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
schwer waren, dass sie auf ihr orientalisches Gewand tropften, wo sie immer größere, dunkle Flecken bildeten.
Helene hob ihren Kopf. Wir waren an dem Tag verabredet.
Kein Zwinkern, kein Blick, nichts verriet, ob Carls Mutter Helenes deutlich gesprochene Worte gehört hatte.
Die Sonne hat geschienen, sagte Carls Mutter, aber es lag noch Schnee. Er ist ausgerutscht und mit dem Kopf gegen den Kühler eines Wagens geprallt. Der Wagen konnte nicht so schnell halten. Sie haben uns das Fahrrad gebracht. Es war ganz zerbeult. Ich habe es abgerieben. An den Speichen klebte etwas Blut. Nur wenig. Das meiste war wohl auf der Straße geblieben.
Das Hausmädchen brachte eine Kanne mit Tee, fragte, ob noch etwas gewünscht sei. Aber da Carls Mutter sie nicht beachtete, entfernte sie sich wieder.
Die Schneeglöckchen, die er in der Hand gehalten hatte, waren noch frisch. Der Beamte hat uns alles gebracht. Die Schneeglöckchen, seine Brille, das Fahrrad. Er hatte eine Tasche mit Büchern bei sich. In seiner Brieftasche waren neun Mark, glatt, keine Groschen, keine Pfennige. Carls Mutter lächelte plötzlich. Neun Mark, ich habe mich gefragt, ob jemand Geld aus der Brieftasche genommen hat. Ihr Lächeln versiegte. Eine blonde Locke war darin. Von Ihnen? Er war sofort tot.
Carls Mutter tupfte ihre Augen, vergeblich. Es wirkte, als würde ihr Tupfen die Tränen nur umso heftiger hervorlocken. Sie schnäuzte sich, sie wischte mit einem noch halbwegs trockenen Zipfel des Tuchs die Augenwinkel aus.
Helene streckte ihren Rücken durch. Sie konnte nicht mehr lange hier sitzen bleiben, eins ihrer Beine war eingeschlafen. Mein herzliches Beileid, Frau Professor. Helene hörte ihre Worte, sie erschrak, über die Falschheit darin. Dabei meinte sie es, sie wollte es sagen, aber wie sie es gesagt hatte, klang es falsch, es klang unbeteiligt und kalt.
Carls Mutter hob jetzt ihren Blick und sah unter ihren schweren und nassen Wimpern hervor Helene an. Sie sind jung, Ihr Leben liegt vor Ihnen. Carls Mutter nickte jetzt, als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen, dabei war ihr Blick von einer Warmherzigkeit, wie Helene sie noch nie an einer Frau gesehen hatte. Sie werden einen Mann finden, der Sie lieben und heiraten wird. Schön wie Sie sind und klug.
Helene wusste, dass nicht stimmte, was Carls Mutter ihr da prophezeite, was sie sich selbst und Helene zum Trost sagte. Sie sagte es, und darin enthalten lag der Hinweis auf einen feinen Unterschied: Helene konnte sich einen anderen Mann suchen, sie würde ihn finden, nichts leichter als das. Doch niemand konnte sich einen anderen Sohn suchen. Dieses Gleichnis von Mann und Mann, die aufleuchtende Konkurrenz der Funktionen eines Menschen, die Reduzierung dieses Menschen auf seinen Platz im Leben der ihn Liebenden erschien Helene von Grund auf falsch. Aber sie wusste, dass jedes Kopfschütteln und jede Verneinung Carls Mutter kränken würde. Das Messen von Trauer war hier unmöglich und hätte etwas Grausames gehabt, sie beide weinten um einen anderen Carl.
Ich muss jetzt gehen, sagte Helene. Sie stand ungeachtet ihrer gefüllten Tasse auf. Der Stuhl erzeugte beim Zurückschieben ein raues Knirschen. Carls Mutter erhob sich, sie musste ihr Gewand mit einer Hand raffen. Womöglich war sie in ihrem Gewand geschrumpft. Mit der Hand wies sie auf die Tür, damit kein Zweifel daran aufkam, dass Helene den Rückweg durch das Innere des Hauses antrat. Helene wollte warten, sollte nun aber vorausgehen. Gehen Sie nur, sagte Carls Mutter, sie wollte nicht von Helene angesehen werden. Helene hörte, wie sie hinter ihr durch den Saal ging, vorbei an dem Kamin, auf dessen Sims Carls Brille lag, vorbei an den hohen Vasen und an gerahmten Seidenstickereien, die Helene erst jetzt sah, pastellene Bilder von Reihern und Nachtfaltern, Bambus und Lotusblüten. Sie gelangten in die Eingangshalle zurück. Zwei Frauen waren auf dem Rodin zu sehen, tanzende, nackte Mädchen.
Ich danke Ihnen für Ihre Einladung, Helene drehte sich zu Carls Mutter um und streckte ihr eine Hand entgegen.
Der Dank ist auf unserer Seite, sagte sie, und musste ihr Taschentuch in die linke Hand nehmen, um Helene ihre lange Hand zu reichen, die merkwürdig lauwarm und trocken und feucht zugleich war. Eine leichte Hand. Eine Hand, die nicht mehr gehalten werden musste und nichts mehr halten wollte.
Das Hausmädchen öffnete Helene die Haustür und brachte sie bis ans schmiedeeiserne Tor.
Kaum war das Tor hinter Helene ins Schloss
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